Das Verhör des Harry Wind

Buch

verhoer-des-harry-wind.jpg

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

256 Seiten

CHF 26.00, EUR 26.00

ISBN: 978-3-85990-023-3


1 Rezension

Der Roman "Das Verhör des Harry Wind" - der dritte Band der sechsbändigen Werkausgabe in der edition 8 - machte Walter Matthias Diggelmann 1962 schlagartig auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Brisant und hoch aktuell war nicht nur das Thema des Buches; auch der Stil, ein karger, stark dokumentarisch geprägter Realismus, war neu und traf offensichtlich den Geschmack der Zeit.

Wie bei Diggelmann üblich, entstammte der Stoff zu diesem Roman wiederum der ganz persönlichen Erfahrung. Als Texter in der Werbeagentur von Rudolf Farner hatte er die damals brandneuen Methoden der politischen Public-Relation kennen gelernt. Erstaunt und schockiert stellte er fest, wie leicht sich Stimmungen instrumentalisieren und Meinungen manipulieren liessen. Gleichzeitig war er aber auch fasziniert von der Persönlichkeit Rudolf Farners, der Macht und Einfluss spielen liess, wenn es darum ging, seine politischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.

Harry Wind ist nicht Rudolf Farner, aber er trägt deutliche Züge des erfolgreichen Werbers, die ihrerseits mit stark autobiografischen Elementen durchsetzt sind. Diese Verbindung von beruflicher und lebensgeschichtlicher Erfahrung verleiht dem Roman eine hohe Authentizität. Zwar wirkt die Auseinandersetzung um Armee- und Abrüstungsfragen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges heute etwas zeitgebunden; die Grundfragen des Buches aber - Fragen nach Wahrheit und Lüge sowohl im öffentlichen Diskurs wie innerhalb der eigenen Lebensgeschichte - haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Wie alle Figuren im Werk Walter Matthias Diggelmanns ist auch der des Landesverrats angeklagte Harry Wind ein Geschichtenerzähler und Geschichtenerfinder auf Gedeih und Verderben. Was für den Werber ein raffiniert eingesetztes Arbeitsinstrument war, wird für den Angeklagten ein geschickt genutztes Mittel zur eigenen Verteidigung. Für Diggelmann selbst waren Geschichten immer beides: eine literarische Form und der Versuch, der eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Werkausgabe

Band 1 bis 6 von Walter Matthias Diggelmanns Werkausgabe sind auch im Schuber erhältlich:

Der Preis: Fr. 120.-, Euro 120.-
Die Bestellnummer: ISBN 978-3-85990-031-8

Rezensionen

Link-Icon

Veränderte Wirklichkeiten

Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung / 4.7.02

Walter Matthias Diggelmann, 1979 an Krebs gestorben, wäre morgen 75 Jahre alt. Innerhalb einer neuen Werkausgabe erscheint sein Roman «Das Verhör des Harry Wind» neu - und erweist sich als nachhaltig aktuell.

«Im Ernst, ich hatte mir niemals vorgenommen, Schriftsteller zu werden. Ich hatte Träume wie andere Buben auch: Pilot zum Beispiel, angeregt durch Ackermanns Bücher, durch die Abenteuer Mittelholzers, Oskar Biders vielleicht auch. Oder Lok-Führer, oder Arzt, Chirurg zum Beispiel, Schauspieler (?). Den Schriftsteller hat man aus mir gemacht, wie man zum Beispiel andere zu Dieben macht.» So schrieb Walter Matthias Diggelmann 1965 in einem «Versuch, ein Selbstporträt zu schreiben».

Am 5. Juli 1927 in Zürich als unehelicher Sohn einer Vollwaisen geboren, wuchs Diggelmann bei Pflegeelternin Walenstadt auf, seit seinem sechsten Lebensjahr bei der inzwischen verheirateten Mutter in Rhäzüns. Die Oberrealschule in Chur brach er ab, eine Uhrmacherlehre in Zürich endete nach einem kleinen Diebstahl mit der Flucht nach Italien. Von dort als Fremdarbeiter nach Dresden deportiert, versuchte er zu fliehen, wurde gefasst und bis zum Kriegsende in süddeutsche Gefängnisse gesteckt.

Geschichten

1945 kehrt er zurück in die Schweiz: «Die ersten Nachkriegsjahre waren schwierig. In jeder Hinsicht. Und je schwieriger mir die Hindernisse erschienen, desto schwieriger wurde ich, unlösbar erschien mir die Frage: was nun? Schliesslich landete ich vor meinen Richtern, diese wurden wiederum nicht fertig mit mir und schickten mich für ein halbes Jahr in die Heil- und Pflegeanstalt Rheinau. Und hier war es, wo ich begann, Geschichten zu schreiben. Geschichten über mich. Geschichten jedoch erzählt in der dritten, nicht in der ersten Person. In voller Absicht. Denn Distanz wollte ich ja gewinnen von mir und meinen Erfahrungen. Ich hatte eine Erfahrung gemacht und suchte nun nach der dazu passenden Geschichte, also auch nach der Erklärung: so schrieb ich an meine Richter, schrieb ich an meinen Amtsvormund, an meine Mutter seitenlange Briefe, eben Geschichten. Aber meine Geschichten kamen nicht an. Keiner verstand sie, keiner entschlüsselte sie. Und hinzu kam, dass meine Geschichten meinen Aussagen vor Gericht widersprachen. ?Also lügt er doch?, sagten sie alle. Ein Lügner, wie es im Buche steht. Und natürlich ist es nicht abzustreiten: die Geschichten veränderten die Wirklichkeit.»

Autodidakt

Diggelmann studiert als Autodidakt, liest «Hesse und Hamsun und Frisch». 1949 wird er Regieassistent am Schauspielhaus Zürich, 1956 Dramaturg bei Radio Zürich. Er schreibt Beiträge für Zeitungen, Radio und Fernsehen, arbeitet von 1956 bis 1962 als Texter in der Werbeagentur Farner. Seit 1962 freier Schriftsteller, stirbt Walter Matthias Diggelmann 1979 an Krebs.

Ein erster Kriminalroman erscheint 1955: «? Mit F 51 überfällig», 1960 der erste Roman «Geschichten um Abel», 1962 «Das Verhör des Harry Wind». Als Band 3 einer auf sechs Bände angelegten Werkausgabe erscheint dieser Roman in diesen Tagen in einer Neuauflage in der Edition 8. Harry Wind, der ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit betreibt, wird verhaftet, steht unter dem Verdacht, ein Landesverräter zu sein. Er hat nicht nur die «Schweizerische Wehrgesellschaft» initiiert, die sich für eine starke Schweizer Armee und die Atombewaffnung einsetzt, er soll auch dem russischen Geheimdienst einen Bericht über gefährliche Schwächen dieser Armee zugespielt haben.

Keine Wahrheit

Der politische Stoff gibt Einblick in die Arbeit an der öffentlichen Meinung, macht sichtbar, wie der Ausgang einer Volksabstimmung durch eine PR- und Werbekampagne beeinflusst wird. Damit verbindet Walter Matthias Diggelmann seinen eigenen Stoff, die Geschichten, die «wirkungsvoller sind als Beweise».

Harry Wind soll wie Max Frischs Stiller in der Gefängniszelle ein Geständnis, einen Lebenslauf schreiben. Stiller behauptet, nicht Stiller zu sein, und erfindet sich als Mister White. Harry Wind entwirft Lebensläufe - nicht um über sich selbst Gewissheit zu erlangen, sondern um seinem Vernehmer von der Bundespolizei zu zeigen, dass es kein Geständnis, keine Wahrheit geben kann: «Wahrheit ergibt sich nur aus den Geschichten. Und Polizeiakten, Herr Rappold, enthalten niemals die Wahrheit, sondern geben nur darüber Aufschluss, in wessen Händen die Macht liegt.»

Geschichten, schrieb Diggelmann in seinem Versuch eines Selbstporträts, verändern die Wirklichkeit. Darum ging es ihm in seinem Schreiben, die Wirklichkeit zu verändern: Für sich selbst, um seinen Platz zu finden in der Wirklichkeit, aber auch für die Gesellschaft, die er sich anders dachte, nicht mit diesem Gefälle von Macht gegen Ohnmacht.

Reflexionen

«Das Verhör des Harry Wind» ist ein Roman, der ein präzises Bild schweizerischer Realität Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre gibt. Diggelmann skizziert mit präzisem Strich, zeigt, wie es unter Geschäftspartnern, unter Offizieren und Offiziersanwärtern zugeht - nicht um des Kolorits willen, sondern um die Machtverhältnisse, die gesellschaftlichen Mechanismen sichtbar zu machen. Das hat zwar mit Realismus zu tun und mit der Kartografierung eines sozialen wie politischen Feldes. Doch indem dieser Autor die realistische Studie durch Reflexionen über Wahrheit und Macht, über Erfinden und Verändern überhöht, macht er aus seinem Roman nicht nur eine Autobiografie (die er zu Teilen auch ist), sondern ein Buch über das Schreiben und über die Position des Schriftstellers in der Gesellschaft, in der politischen Wirklichkeit. Das bleibt aktuell und hat über das zeitgeschichtliche Zeugnis hinaus Bestand.