Walter Matthias Diggelmann

Autorin/Autor

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Walter Matthias Diggelmann

1927-1979, war seit Beginn der 1960er-Jahre einer der bekanntesten, profiliertesten und auch umstrittendsten Autoren der Schweiz. Obwohl er stets von den eigenen Erfahrungen ausging und im Grunde immer nur über sich selber schrieb, geriet er tief in die ideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und sorgte mit seinen Büchern für zum Teil hitzige politische Debatten. Das machte ihn anfechtbar und unbeliebt und führte dazu, dass er seine Bücher über Jahre nur noch in Deutschland veröffentlichen konnte.

Unehelich geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, fühlte WMD sich zeitlebens als Aussenseiter und setzte sich, wo immer er konnte, für jene ein, die sich selbst nicht wehren konnten. Doch der politische Kämpfer ist vom Erzähler nicht zu trennen. Schreibend hat sich Diggelmann seinen Platz in der Gesellschaft erobert. Leben und Schreiben waren für ihn eins und kannten beide nur das eine Ziel, die eine Sehnsucht: sich selbst zu finden, sich selbst zu erfinden, so lange, bis die tödliche Krankheit ihn zum Verstummen brachte.

Diggelmanns Werk umfasst zehn Romane, drei Jugendbücher, mehrere Erzählbände, zahlreiche Hörspiele, Filmszenarien, Theaterstücke und Fernsehspiele, Reportagen, Tagebücher und Gedichte sowie unzählige Kolumnen, in denen er zu sozialen und politischen Themen des Tages Stellung genommen hat. Ein Grossteil seiner Bücher ist in Deutschland erschienen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Werkausgabe
Band 1 bis 6 von Walter Matthias Diggelmanns Werkausgabe sind auch im Schuber erhältlich.
Geschichten um Abel
Der falsche Zug
Das Verhör des Harry Wind
Die Hinterlassenschaft
Filippinis Gartendition & Schatten
Da, das bin ich
Der Preis: CHF 120.–, Euro 120.–
Die Bestellnummer: ISBN 978-3-85990-031-8

Hintergrund

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Er kämpfte mit den Waffen der Literatur / NZZ und Tagesanzeiger / 05.07.2002

Heute wäre Walter Matthias Diggelmann 75 Jahre alt geworden. Eine Erinnerung an den streitbaren und umstrittenen Schriftsteller.

Von Reinhardt Stumm

Walter Matthias Diggelmann wurde am 5. Juli 1927 geboren. Das ist 75 Jahre her. Er starb am 29. November 1979, gerade 52 Jahre alt. Inzwischen ist Diggelmann Legende. Ein Stapel Bücher erinnert an ihn, zehn Romane und drei Jugendbücher, Erzählungen, Hörspiele, Filmszenarien, Theaterstücke und Fernsehspiele, Reportagen, Tagebücher, Gedichte und Zeitungskolumnen. Er schrieb schnell, er war beispiellos fleissig, in Zürich publizierte er bei Artemis und bei Benziger, der sein Hauptverleger wurde.

Er hat gearbeitet wie ein Pferd. Er musste, es war sein Kampf ums Leben. Auf den Buchrücken stehen die Titel, die meisten haben wir noch im Ohr: "Das Verhör des Harry Wind", "Die Hinterlassenschaft", "Freispruch für Isidor Ruge", "Ich und das Dorf", "Aber den Kirschbaum, den gibt es", "Der Reiche stirbt", "Filippinis Garten", "Schatten. Tagebuch einer Krankheit", "Spaziergänge auf der Margareteninsel".

Diggelmann war ein journalistisches Temperament. Leicht erregbar, engagiert, rasch, zäh, mit einem gesunden Instinkt für das Richtige und das Falsche, ein guter Rechercheur mit der Witterung für Geschichten und einer Leidenschaft für Fairness, für Gerechtigkeit. Was zur Folge hatte, dass er kein Fettnäpfchen ausliess. Das fing gleich mit "Das Verhör des Harry Wind" (1962) an. Diggelmann hatte bei einer Werbeagentur gearbeitet und dort erfahren, wie man aus Wirklichkeiten Märchen macht. Natürlich gab es Ärger. Aber das war nur ein Vorgeschmack. Der richtige Zoff kam erst, als drei Jahre später "Die Hinterlassenschaft" erschien.

Benziger war das Buch zu heiss. "Fragen Sie Ihren Papa, wie viele Juden er nach Auschwitz geschickt hat . . .", das blieb den Schweizern 1965 ebenso quer im Hals stecken wie Diggelmanns Vergleich des Pogroms von 1956 gegen den Thalwiler Kommunisten Konrad Farner - er schildert die Ereignisse in seinem Roman mit allen Zeichen des Entsetzens - mit der Kristallnacht. "Es ist sinnlos geworden", schreibt ein junger Dienstverweigerer in dem Buch, "für ein Land mit Leib und Leben einzustehen, das seine Freiheit und Würde verschachert hat."

Das Buch erschien also 1965 bei Piper in München, lange vor Bonjour ("Geschichte der Schweizerischen Neutralität", 1978) und Alfred A. Häsler ("Das Boot ist voll", 1967), und ziemlich lange vor den ersten Regungen des Gewissens in diesem Lande. Niemand liebte ihn dafür. Das Buch führte zu einem Skandal, der im Berner Auftrittsverbot für Diggelmann vom 22. Oktober 1965 gipfelte.

Die literarische Kritik hielt sich vornehm zurück, bekundete Mühe mit dem Montagecharakter des Buches und formulierte zum ersten Mal, was später immer wieder zu lesen war: Diggelmann ist eben der Getretene, der Gedemütigte, der sich mit seinem Schreiben zu befreien versucht von den seelischen Verletzungen seiner Jugend. Aus dieser Einsicht macht die Kritik dann so eine Art Freibrief für den Autor (und für sich). Mein Gott, wem es so schlimm erging, der darf auch danebenhauen. Hatte nicht sogar die Psychiatrie Jahre vorher bestätigt, dass er gefährdet, gemütsarm, fantasielos, egozentrisch und asozial ist? Also sind Diggelmanns Bücher Lebenshilfe zur Überwindung persönlicher Frustrationen, was ihrer Qualität freilich ebenso abträglich ist wie der Versuch des Autors, sie zu ideologischen, gesellschaftskritischen Waffen zu machen. Diese mehrfache Gebundenheit des literarischen Schaffens erkläre denn auch "die Schwächen in Diggelmanns Werk, die in den Romanen besonders auffallen" ("Die zeitgenössischen Literaturen der Schweiz", Kindler, 1974). Worin bestehen diese Schwächen? Seine Figuren holzge-schnitzt? Thesenträger? Beweisträger? Sie haben kritische Relevanz und sie haben ästhetische Relevanz. Die Prügel, die er einsteckte, bekam er dafür, dass die Kritik den sprachlichen Schub nach vorne, in die herrschende gesellschaftliche Wirklichkeit hinein, erst kapieren musste, bevor sie hinterherhinken konnte. Er nicht schreiben können? Die das behaupten, können nicht lesen!

Das ist alles schon x-mal geschrieben, und hundertmal lese ich diese merkwürdig gedämpften Lobpreisungen, mit denen Literaturkritiker sich aus der Affäre ziehen und nicht so recht wissen, wie sie mit dem Mann umgehen sollen. War er ein grosser Schriftsteller? Was ist ein grosser Schriftsteller? Wie viele Formeln gibt es?

Diggelmann gab sich nicht die geringste Mühe, seinen Abscheu auf psychologisch richtig dosierte Randbemerkungen zu beschränken - im Gegenteil! Er erkannte auf Hass, Feigheit und Dummheit. Dafür verteufelten ihn die Empfänger der Botschaften - so Werner Wollenberger am 13. März 1967 in der "Zürcher Woche" - "als superroten Kommunisten und Marxisten". Dabei "ist er ein so politischer Mensch gar nicht - er ist, wenn sie mich fragen, überhaupt kein politischer Mensch. Er ist bloss ein Mensch." Wollenberger hatte Recht.

Diggelmann war Moralist. Nicht der mit Blindheit geschlagene, eifernde Dienstbote abgestorbener Konventionen, sondern ein Verfechter der Ansprüche des Menschen auf materielle, physische und spirituelle Freiheit. Politik ist Kalkül, Berechnung, Spekulation. Moral ist das Absolute. Politik bedenkt Nutzen und Schaden, schadet anderen zu eigenem Nutzen und lügt um, was sie tut, um den Schein zu wahren. Politik ist ihrem Wesen nach unmoralisch. Moral ist ihrem Wesen nach unpolitisch. Sie bedenkt nicht den Nutzen, sondern das Recht. Moral ist politisch dumm, unklug, kann von gewonnenen Einsichten nicht absehen. Die Forderung nach Moral ist die Forderung nach dem Unmöglichen - wer sie fordert, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Und kann doch nicht unterlassen, sie zu fordern. Weil aber mit diesem Dilemma nicht zu leben ist, ist Klugheit das Mauseloch, durch das entwischen kann, wer Handlungsfreiheit zurückgewinnen will.

Ich, du, er, sie, es, wir alle sind klug, nur der Schriftsteller Diggelmann nicht! Wer aber genau hinsieht, erkennt den Berührten, den sehr schwer Verletzten und Hochsensibilisierten. Wer verstehen will, was das heisst, wer erahnen will, wie tief seine Wunden sind, muss die postum erschienenen "Spaziergänge auf der Margareteninsel" (1980) lesen. Dem wird dämmern, was ein Kampf ums Leben ist. "Literatur war für mich zu einer Waffe geworden, mit der ich zunächst mich selber und später andere verteidigte", schreibt er. Respekt davor und kein Kommentar.

Ergiebige Energiequelle

Es gab nach meiner Kenntnis keine Versuche, Diggelmanns erzählerische Energie, seine trickreiche Kunst der Übersetzung von Tagesaktualität in festgeschrie-bene und dauerhafte Geschichten, seinen formalen Erfindungsreichtum zu erkennen und kritisch zu rezipieren, seine rhetorische (und von mir aus kunstlose) Dynamik entschieden aus seinem moralischen Impetus heraus zu verstehen und ein Gefühl für das zu entwickeln, was dieser moralische Hitzkopf zu leisten im Stande war und leistete. Die Kritik wollte knotenfrei gezupfte Watte.

Es gibt eine ganze Menge guter Gründe, Diggelmann auszugraben und wieder mal zu lesen. Einer wäre, dass er immer gute Geschichten schreibt - er kann erzählen! So hat es ja auch irgendwann mit ihm angefangen. Ein freundlicher Jüngling hatte eine Nacht lang seiner Lebensgeschichte zugehört und ihm eben dies gesagt: Mensch, du musst Schriftsteller werden! Ein anderer wäre, dass die moralische Kraft, die er hat, sich vermittelt. Wer will, kann hier eine ergiebige Energiequelle anzapfen. Was uns fehlt, ist das Erlebnis von Solidarität, und es fehlt meistens vor allem jenen, die guten Willens sind und sich verlassen fühlen. Ein anderer guter Grund ist, dass es von Zeit zu Zeit wohl tut, gerechten Zorn zu teilen.

Die Bücher kommen wieder. Klara Obermüller, einmal Lebensgefährtin Diggelmanns, ist im Begriff, in der edition 8, Zürich, eine auf 8 Bände veranschlagte Werkausgabe herauszugeben. Davon sind die Bände 1 ("Geschichten um Abel" und ausgewählte frühe Erzählungen) und 2 ("Der falsche Zug"; Erzählungen, Kolumnen, Gedichte) inzwischen erschienen, Band 3 soll in Kürze folgen.

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Unbeugsam / St.Galler Tagblatt / 05.07.2002

Ein Memento für Walter Matthias Diggelmann

Von Charles Linsmayer

Mit 20 trägt er in der heil gebliebenen Nachkriegsschweiz ein Trauma mit sich herum, das nur zu verkraften ist, wenn er immer wieder neu davon erzählt: Sein Land hat ihn, den Vaterlosen, quasi ausgestossen, und auf einer alptraumhaften Odyssee hat er das brennende Dresden gesehen und die Nazigefängnisse kennen gelernt.

Walter Matthias Diggelmann, der heute seinen 75. Geburtstag feiern könnte, legt bis 1953 in 18 unpublizierten Romanen zerknirscht seine Beichte ab. 1947 war er durch einen Studenten dazu angeregt worden. Der Durchbruch gelingt ihm jedoch erst 1962, als er vom verlorenen zum rebellischen Sohn wird und in «Das Verhör des Harry Wind» die publizistischen Machenschaften des Büros Farner denunziert. Mit «Die Hinterlassenschaft», in der er 1965 tollkühn die (erstmals enthüllte!) antisemitische Asylpolitik von 1933-45 mit der Kommunistenhetze von 1956 verknüpft und am Ende den Fehler begeht, der DDR eine «bereinigte» Fassung zuzugestehen, verfällt er aber bereits der Volkswut und bricht unter den Diffamierungen schliesslich zusammen. Doch das genuine Erzähltalent rettet sich in seine Geschichten, deren allerschönste kurz vor, beziehungsweise kurz nach seinem frühen Krebs-Tod am 5. Juli 1979 erschienen ist. Diggelmanns Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod hat ihren bis heute gültigen Niederschlag in «Schatten - Tagebuch einer Krankheit» gefunden.

Leseprobe: Wunderbar sinnlos

Ich denke an meine Zukunft. Wird die Zyste weiterwachsen, werde ich überhaupt noch schreiben können? Meine Schriftstellerei, mein Geschichtenerfinden ist ja nicht einfach der Versuch, Geld zu verdienen. Es ist nicht einfach der Versuch, einen Gipfel zu erreichen, sondern es ist die unheimliche Erkenntnis, durch Schreiben das Leben in Form von Geschichten einigermassen in den Griff zu bekommen. Ich kann mich nicht zweiteilen: hier das Leben, dort das Schreiben. Und es hat fast etwas Groteskes, dass ich jetzt um 23.40 Uhr im Bett liege, irgend so ein komisches Mikrofon in den Händen, das mir erlaubt, später vielleicht alles noch einmal abzuhören. Ich weiss nur, das Wetter ist kalt, das Zimmer ist klein. Und etwas, was mich seltsam berührt: Ich bin nicht mehr im Mittelpunkt. Ich bin irgendwo an eine Grenze getreten. Mein Gegenspieler - wenn ich überhaupt einen habe, und wer mag das sein? - hat mir Schach geboten. Ich habe verschiedene Möglichkeiten: Ich kann meinen König aus der Gefahrenzone entfernen. Ich kann alle möglichen Kombinationen durchdenken. Ich kann meinen König schützen. Ich kann einen Gegenzug versuchen. Aber fatalerweise interessieren mich alle diese Kombinationen gar nicht. Fatalerweise empfinde ich das, was ich jetzt erlebe, als völlig unerheblich. Es ist, als ob mein Leben auf eine wunderbare Art sinnlos geworden wäre. Ein seltsames Gefühl, das Gefühl, dass gar kein Gefühl da ist.

Aus: Walter Matthias Diggelmann: Schatten - Tagebuch einer Krankheit, 1979

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"... dann reisse ich wenigstens eine meiner Seelen aus ..." / Der kleine Bund / 29.06.2002

Am 5. Juli 2002 wäre der 1979 verstorbene Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann 75 Jahre alt geworden. Gegenwärtig macht eine Werkausgabe sein Schaffen neu zugänglich

Charles Linsmayer

In Budapest ist Walter Matthias Diggelmann 1968 von den Kulturfunktionären des Kadar?Regimes als grosser Schriftsteller gefeiert worden, nachdem er in der DDR?Ausgabe und in der ungarischen Übersetzung seines Romans "Die Hinterlassenschaft" den Ungarnaufstand von 1956 als faschistischen Putsch denunziert hat. Elf Jahre später, wenige Monate vor seinem Krebstod mit 52 Jahren, erinnert er sich beim Spazieren auf der Budapester Margareteninsel an diesen zwiespältigen Triumph und wundert sich nun darüber, dass man ihn damals nicht gefragt hat, ob er denn von Anfang an Schriftsteller habe werden wollen. "Ich hätte mit Nein antworten müssen", bekennt er dann in den "Spaziergängen auf der Margareteninsel", die erst postum 1980 erscheinen werden. Und es klingt die ganze Grösse, aber auch die Tragik dieses Autors auf, der sein Leben lang das Trauma seiner unglücklichen Jugend zu bewältigen suchte, wenn er fortfährt: "Nein, ich hatte nicht Schriftsteller werden wollen, ich hatte nur ein geachteter Bürger meines Landes werden wollen."

Eine Story, lebenslang

Diggelmann hat immer wieder erzählt, wie er 1947, mit zwanzig Jahren, in einer Lebenskrise Schriftsteller wurde, weil cin Chemiestudent seine Lebensgeschichte (und die Art und Weise, wie er sie in einer langen Zürcher Nacht erzählt hatte) für den Beweis genuinen Dichtertums hielt. Er habe damals, obwohl er die Bezeichnung noch am andern Tag in die Identitätskarte eintragen liess, keine Ahnung gehabt, was ein Schriftsteller überhaupt sei, gesteht Diggelmann 1979 auf der Margareteninsel. "Aber ich baute darauf, dass meine Geschichte so, wie ich sie in der Nacht erzählt hatte, stark genug sein würde, dass ich damit auskommen würde, ein Leben lang."

Auf den Kern reduziert, handelt diese Geschichte von der Geburt in einem Heim für ledige Mütter, von der Abwesenheit eines Vaters, von einer verschupften Bündner Armeleutekindheit, von früher Diskriminierung und von einer Flucht ins Dritte Reich, von der Konfrontation mit Bomben, Gefängnissen und Terror, aber auch vom vergeblichen Versuch, mit solchen Vorgaben nach 1945 in der Schweiz heimisch zu werden. Aber der Lebensroman ist mit dem Beschluss, ihn zum Schrelbstoff zu machen, keineswegs zu Ende, sondern geht mindestens so abenteuerlich weiter, als Diggelmann für seine Jugendsünden ins Gefängnis und ins Irrenhaus kommt. Und er ist auch nicht zu Ende, als Diggelmann von 1947 bis 1953 ohne Publikationschancen Buch um Buch schreibt, ja nicht einmal dann, als er endlich ver,legt wird und eine ebenso spektakuläre wie gefährdete Position in der Schweizer Literaturszene einnimmt. Nein, die "Diggelmann?Story" geht, Stoff, Thema und Anlass für sein eigenes Schaffen liefernd, impulsiv, dramatisch, exzentrisch, widersprüchlich und selbstzerstörerisch weiter bis zu jenem im Spital diktierten "Tagebuch einer Krankheit" von 1979, wo es heisst: "Irgendwann und irgendwo hat mich mein eigenes Leben, hat mich meine eigene Geschichte eingeholt."

Diggelmann hat zu schreiben begonnen, weil er mit seiner Lebensgeschichte fertig werden musste, weil er sich nur schreibend über sein Schicksal Klarheit verschaffen konnte. Aber die Art und Weise, wie er seine eigene Herkunft beurteilte, hat sich in den 32 Jahren dieses Schriftstellerlebens immer wieder gewandelt.

"Sohn ohne Vater"

1951, als er in einer Mansarde an der Berner Gerechtigkeitsgasse 30 an einem "Berner Roman" arbeitete, der wenig später, als er ihn dem Schriftstellerverein SSV zur Bevorschussung einreichte, "Sohn ohne Vater" heissen wird, sieht er sich noch ganz als Delinquenten, der Busse tut und mit der Darstellung seiner Läuterung vom unwürdigen zum würdigen Sohn des Vaterlandes nicht nur sich selbst, sondern auch den Leser zu einem gläubigen Menschen macht.

"Wenn ich für diesen Roman keinen Verleger finden kann", schreibt er 1951 SSV?Sekretär Franz Beidler, "dann müsste ich an mir und dieser Welt verzweifeln, denn es liegt alle meine Kraft, meine Sünde und meine Hoffnung darin. Nicht ich bin in diesem Roman, die Welt, di. ich liebe, ist darin enthalten, in jedem Wort und in jedem Ausspruch. Ich habe arge Sünden dafür gemacht und nicht wenig gelitten, um diese Läuterung zu erfahren. Manche Menschen werden darüber erschreckt sein. Ich predige jedoch keineswegs Nihilismus, sondern den Glauben, welcher vom Himmel kommt und dahin zurückführt, abseits jeglicher Gesetzgebung."

Sendungsbewusstsein

Obwohl Diggelmann zwischen 1947 und 1953 geschriebenen 18 Romane keinen Verlag findet, leitet er aus seinem existenziellen Getriebensein ein Sendungsbewusstsein ab, das ihn in seinen eigenen Augen weit über dieZeitgenossen emporhebt. "Ich kann euch allen nur raten, lasst doch die Finger von jenen, die dazu bestimmt sind, gross zu werden. Dann habt ihr auch nie Grund, das linke Bein zu heben und euren geistigen Urin an deren ausgewachsenen Stamm zu pissen", weist er am 10. Februar 1954 Erwin Heimann zurecht und vergisst nicht, den fundamentalen Unterschied zwischen ihrer beider Schreibweise offen zu legen: "Wenn Sie Gott dienen, dann zupfen Sie ein berndeutsches Blümlein aus einer bunten Matte und reichen es ihm mit devotem Lächeln. Wenn ich ihm diene, sofern es mir einfällt, das zu tun, dann reisse ich wenigstens eine meiner Seelen aus und reiche diese ihm zur Nachspeise."

Neben der Überzeugung, zu Grossem bestimmt zu sein, hat Diggelmanns Selbstbewusstsein 1954 auch noch einen anderen Grund. Er hat es nämlich inzwischen geschafft, sich als Ehegatte, Vater und Angestellter des Militärflugplatzes Dübendorf bürgerlich zu integrieren. Für seinen Flieger-Jugendroman "Mit F?51 überfällig" hat er sogar erstmals einen Verlag gefunden, und die SSV-Almosen, die ihn jahrelang über Wasser hielten, kann er nun grosszügig zurückweisen. "Meine Person ist Bundesbeamter auf der DMP", gibt er Heimann triumphierend bekannt, "und schreibt mehr und besser denn je, ist glücklich verheiratet und kann auf jegliche Unterstützung verzichten."

Der Systemkritiker

Spürbar erschüttert wird sein Verhältnis zur Gesellschaft erst, als Diggelmann 1959 einen Job als Texter bei der Public?Relations?Agentur Farner und damit Einblick in die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung und in diverse andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge bekommt. "Renitent bin ich nach wie vor", schreibt er am 29. Juni 1959 Franz Beidler, "aber mein Zorn richtet sich nicht gegen die Väter, sondern gegen meine Zeitgenossen..." Die Konsternation über das, was er als Farner?Mitarbeiter in Sachen Zynismus und Machtmissbrauch in Erfahrung bringt, ist jedenfalls aus dem Roman "Das Verhör des Harry Wind", der ihm 1962 den Durchbruch als Erzähler brachte, auch heute noch deutlich herauszuhören.

Von da an ist Diggelmann in seinem Zorn gegen die Mächtigen ebenso hartnäckig.wie in seiner Solidarität mit den Zukurzgekommenen, die er aus seiner eigenen Herkunft ableitet. Als einen Aussenseiter aber empfindet er sich nicht. Auch wenn er damit Schmerzliches aufdeckt, auch wenn scin Flair für den Verkaufswert einer Story ihn zum Dramatisieren verleitet: Schreiben bleibt für ihn nach wie vor ein Mittel, um als Schweizer Ansehen und Anerkennung zu finden. Und sogar "Die Hinterlassenschaft", das Buch, mit dem er sich schweizweit den Ruf eines Nestbeschmutzers einhandelt, ist letztlich aus einem enttäuschten Patriotismus heraus zu erklären. "lch entdeckte eine mir bisher unbekannte Schweiz, ich trat plötzlich eine Hinterlassenschaft an, die mich bestürzte, ratlos machte", erklärt er 1965, kurz vor Erscheinen des Buches, der Zeitschrift "neutralität". "Und als Staatsbürger dieses Landes, der sich weder mit dem Mittelmässigen noch mit dem nur Möglichen zufrieden gibt, sondern wie ein Narr das Unmögliche erwartet in der Hoffnung, das Mögliche trete wenigstens ein, musste ich mit der Hinterlassenschaft, die ich nicht ausschlagen konnte, zu Rande kommen. Ich versuchte es mit meinen Mitteln, indem ich eine Geschiche schrieb." Es gibt eine Menge Einwände gegen dieses Buch. Es bringt das Schicksal eines abgewiesenen jüdischen Flüchtlings von 1942 mit den Attachen in Zusammenhang, die der Kommunist Konrad Farner während des Ungarnaufstands auszuhalten hatte. Die dokumentarische Erzählweise ist nicht wirklich geglückt, die Parallelsetzung Antisemitismus/Antikommunismus ist problematisch, die Bereitschaft, für den Osten Korrekturen im Sinne der dortigen Machthaber zuzulassen, ist fast schon unverzeihlich und machte es den Gegnern nur allzu leicht, Diggelmann zum Verräter zu stempeln. Denn die wütende Reaktion, die dieses Buch auslöst, hat in Wirklichkeit ganz andere Gründe. Hier hat es nämlich einer gewagt, zur Unzeit, das heisst noch vor Häslers "Das Boot ist voll" und lage vor dem Bonjour-Bericht, die antisemitisch motivierte Schweizer Asylpolitik von 1933 bis 1945 an den Pranger zu stellen und damit erstmals in aller Radikalität den Mythos der humanen Schweiz als fragwürdig zu entlarven. Was Diggelmann nach 1965 passierte, liess sich unter dem Titel "Tollkühner linker Aufklärer stellt sich der Reaktion" zum Drama stilisieren, zutreffender aber dürfte der Titel von Reni Mertens und Walter Martis erschütterndem Filmporträt von 1973 sein, "Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann", hatten der politische-literarische "Sündenfall" und die publizistische Diffamierung für den Betroffenen indirekt doch auch den Verlust der mühsam erreichten bürgerlichen Integration, das Zerbrechen der ersten und einer zweiten Ehe sowie die Stigmatisierung zum Alkoholiker zur Folge.

Erstaunliches Spätwerk

Aber aus der Hölle der Verzweiflung stieg nach vielerlei Irrläufen und Wendungen am Ende wie durch ein Wunder jener Geschichtensammler hervor, der - befreit vom ideologischen Ballast und von der Sucht, sich beweisen oder entschuldigen zu müssen - einfach nur noch erzählte, wundervoll stimmig, souverän und glaubwürdig erzählte. "Aber den Kirschbaum, den gibt es", "Filippinis Garten", das Tagebuch "Schatten" und die erst postum erschienenen Erzählungen zeugen davon, und wenn nicht alles täuscht, hat an dieser späten literarischen Selbstfindung Klara Obermüller, die heutige Herausgeberin seines Werks, einen nicht zu unterschätzenden Anteil.

Die Kritikerin und Journalistin kam an einem Tiefpunkt seiner Biografie mit ihm in Kontakt, gewann während einer DDR-Reise unter weitgehender Selbstverleugnung das Zutrauen des trotzigen Möchtegernkommunisten und vermochte ihm dann offenbar jene Geborgenheit zu geben, die er ein Leben lang vergeblich gesucht hatte. Auf ebenbürtig-gleichberechtigter Ebene allerdings, denn "vielleicht bin ich stark / weil du stärker bist" schliesst eines jener Liebesgedichte, die das jetzt allmählich wieder zugänglich werdende Schaffen Walter Matthias Diggelmanns auf berührende Weise abrunden.


Eine Werkausgabe Walter Matthias Diggelmann

li. Seit zwei Jahren gibt die Publizistin und Kritikerin Klara Obermüller, die ihn seinen letzten Lebensjahren mit ihm verheiratet war, im Verlag der Zürcher edition 8 eine Werkausgabe Walter Matthias Diggelmann heraus. Die auf sechs Bände veranschlagte Edition bietet nicht den ganzen Diggelmann neu an, sondern nur eine Auswahl jener Werke und Dokumente, die auch bei einem heutigen Publikum noch oder wieder Interesse finden könnten.

Nach einem ersten, im Jahre 2000 erschienenen Band, der nebst anderer früher Prosa die "Geschichten um Abel" von 1960 enthielt, ist im Herbst 2001 unter dem Titel "Der falsche Zug" ein zweiter Band mit Erzählungen, Kolumnen und Gedichten herausgekommen. Unter den erzählenden Texten wirken neben den späten autobiografischen "Spaziergängen auf der Margareteninsel" noch jene am eindrücklichsten, die sich, wie "Der Füsilier" oder "Jud Bloch", mit der Aufarbeitung der schweizerischen Vergangenheit befassen und im weitesten Sinn zum Komplex der "Hinterlassenschaft" gehören, der im Frühling 2003 neu herauskommen soll. Arg zeitgebunden wirkt der Kolumnist Diggelmann, der sich als kämpferischer Linksintellektueller von inzwischen fragwürdig gewordenem Impetus outet, während der gleiche Autor mit den in den letzten Lebensmonaten entstandenen, bisher weitgehend unveröffentlichten Gedichten unmittelbar zu berühren vermag: "Mich friert manchmal / Wenn andere schwitzen / Dafür kann ich lieben / Wenn andere hassen."

Als jüngster Band erscheint nun im Juli Band 3, "Das Verhör des Harry Wind" aus dem Jahre 1964. Der Roman basiert auf den Erfahrungen, die Diggelmann als Mitarbeiter der Werbeagentur Farner in Zürich gemacht hatte, und präsentiert zum ersten Mal jenen zornigen, gesellschaftskritischen Autor, als welcher er dann bald einmal berühmt und berüchtigt sein sollte. Anders als 1964, als der Roman in Deutschland als Schweizer Fallbeispiel zur "Spiegel?Affäre" gelesen wurde, interessiert heute aber weniger die poiltische als vielmehr die literarisch-fiktionale Seite des Buches: die Geschichte eines Menschen, der sich auf Teufel komm raus mit Geschichtenerzählen am Leben erhält.

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Der Schriftsteller Jean Villain über WMD / Juli 2002

Jean Villain: Bericht aus der pfahlburgischen Puritanei

«Und die Zeiten! Diese Arbeitslosigkeit. Erinnerst du dich, wie wenig Papa in den dreissiger Jahren verdient hat? Als Knecht? Und ich habe als Magd noch mitgeholfen. Zweihundert im Monat, dazu Milch frei, das Brennholz, und jeden Herbst zwei Zentner Kartoffeln...» (Aus Walter Matthias Diggelmanns Roman «Ich und das Dorf»)

Die Schweiz besteht, wie man weiss, aus fünfundzwanzig leidlich erforschten und deshalb auf den handelsüblichen Landkarten mehr oder minder wirklichkeitsgetreu eingetragenen Kantonen. Kaum bekannt sind dagegen gewisse geistige Provinzen der Eidgenossenschaft. Über einige von ihnen weiss man noch so wenig, dass sie in den einschlägigen Standardwerken nicht einmal als weisse Flecken Erwähnung finden. Und doch steht fest, dass es sie gibt. Es sind die mühlenreichen Provinzen der pfahlburgischen Puritanei!

Verlässliche Kunde über sie ist deshalb so rar, weil zu ihnen nur Einbahnstrassen führen. Wer auf sie gestossen wird, gelangt zwar schneller ins Pfahlburgische hinein, als ihm lieb ist, aber kaum je wieder von dort zurück. Der Ausbruch aus jenen Mühlenbezirken ist schwierig; nur wenige schaffen ihn. Zu diesen wenigen zählt der Mann, der mir gegenübersitzt. Er ist etwa vierzig Jahre alt. Aber ob er es tatsächlich geschafft hat? Ich sehe mich in seinem Zimmer um. Auf der Platte des niederen Rauchtisches spiegelt sich eine Flasche erfreulichen Beaujolais, und weil sein Reisebericht lang sein wird, steht darunter in Reserve eine zweite. Die Gläser, griffig und robust, von der Art, wie man sie nur in Spezialgeschäften findet. An den Wänden Bücher und zwei, drei abstrakte Bilder. Originale. Dazu irgendwelche fleischige, langstielige Blumen, geschmackvoll arrangiert. Und in der Ecke das innenarchitektonische Statussymbol der Arrivierten dieses Landes: ein gewaltiger offener Kamin, mit Marmor ausgelegt. Er erweckt in mir, ich gebe es zu, gewisse Bedenken.
Ich setze den Recorder in Gang. Aufnahme. Meine Bandreserven werden für sechs Stunden reichen.

Als sie durchgelaufen sind, weiss ich, dass meine Bedenken - Kamin hin oder her - unbegründet waren. Obschon der Mann, der mir gegenübersitzt, schon vor vielen Jahren aus dem Pfahlburgischen ausgebrochen ist, befindet er sich immer noch unterwegs, und arrivieren, dort ankommen, wo man sich zur Ruhe setzt, wird er wohl nie. Sonst hätte er anders erzählt. So wie einer, der es hinter sich hat, dessen Geschichte Geschichte ist. Seine Geschichte dagegen ist Zwischenbericht, im Gehen abgegeben.
Der Anfang fällt ihm (nennen wir ihn D.) schwer. Es ist da nämlich - wen überrascht es - eine Sünde zu beichten. Für nichts gerät ja schliesslich keiner in die pfahlburgischen Bussmühlen. Allerdings: Begangen wurde die Sünde von andern; er hatte sie nur zu büssen.

«Am besten fange ich wohl damit an, dass ich als ausserehelicher Sohn einer Bauernmagd aus dem Zürcher Oberland zur Welt kam.» Gut, nehmen wir es zur Kenntnis. Er wird schon einen Grund haben, seine Angaben zur Person gerade mit dieser Information zu eröffnen. Und wenn es nur der wäre, dass er selber von diesen etwas abseits der bürgerlichen Norm liegenden standesamtlichen Begleitumständen seiner Zeugung und Geburt erst Kenntnis erhielt, als er längst erwachsen war. Dafür hatte seine Mutter gesorgt. Nicht aus falscher Scham oder weil es da irgendeinen «Fehltritt» zu verheimlichen galt, sondern einfach nur so. Aus Lebenserfahrung, wenn man will.

Erfahren hatte die Frau ziemlich viel in ihrem Leben. Vom fünften Lebensjahr an elternlos, war sie als so genanntes Verdingkind aufgewachsen. Verdingkind ... Eine aufschlussreiche Wortkombination! Ein Kind steckt darin und ein Ding. Ein Kind, das ver-dingt, zum Ding gemacht wird. Zuständig für die Ver-Dingung von Kindern sind in der Schweiz die Vormundschaftsbehörden, und die Empfänger verdingter Kinder sind in der Regel wohlhabende Bauern. Die verpflichten sich, dem zu übernehmenden Menschending gegen geringes Entgelt Kost und Logis zu geben und aus ihm ein brauchbares Glied der Gesellschaft zu machen, ihm also Fleiss in der Arbeit, Fügsamkeit und Demut beizubringen. Das Erste, was Verdingkinder auf Bauernhöfen lernen, ist daher das «Dankeschön»-Sagen. Auch D.s Mutter wurde es im Lauf der Jahre zwischen Stall und Kartoffelacker eingetrichtert, und zwar derart gründlich, dass sie schliesslich auch «Dankeschön» sagte, als man sie - mit sechzehn - einem Schneider in die Lehre geben wollte. Allerdings sagte siees um eine Spur zu laut und zu deutlich. Ihrem Vormund jedenfalls klang es eher wie ein: «Leckt mich am Arsch.» Was ihn sehr verwunderte, ja erboste, denn in jenen Tagen war einem Verdingkind nur selten die Chance geboten, einen soliden Beruf zu erlernen.

«Weisst du», erklärte D.s Mutter später einmal ihrem Sohn, «eine dreijährige Lehre, das hätte drei weitere Jahre Abhängigkeit von Almosen bedeutet. Natürlich hätte ich gern einen Beruf gehabt. Aber ich konnte einfach nicht mehr.» Statt Schneiderin wurde sie Kellnerin oder, wie man in der Schweiz sagt, Serviertochter. Und als sie achtzehn war und die Zeit der Liebe kam, wollte bald einmal ein Mann mehr von ihr als ein Bier, und um jenes andere zu bekommen, verschwieg er ihr, dass er verheiratet war.

Hierzu D.: «Von der Existenz meiner ältesten Schwester, die wie ich ausserehelich geboren wurde, erfuhr ich erst mit 25. Vorher hatte meine Mutter nie von ihr gesprochen, und das erklärt sich so: Sobald meine Schwester da war, meldete sich auch die Vormundschaftsbehörde wieder, die sich seit der Geschichte mit der Schneiderlehre nicht mehr hatte blicken lassen. Einmal, um meine Mutter, die damals ja noch nicht volljährig war, zum gefallenen Mädchen zu ernennen, zum andern, um ihr im Namen des Gesetzes und der guten Sitten das Neugeborene wegzunehmen.»

Danach wurde die «Kindsmutter» (wie solche Mädchen von Amts wegen genannt werden) wieder sich selber überlassen. Und doppelt einsam ohne ihr Kleines, suchte sie nun mit doppelter Intensität neuen Anschluss. Ihr nächstes Kind empfing sie von einem, der als Saisonknecht aus der Steiermark zugewandert war. - «Somit bin ich also», betont der Mann mir gegenüber nicht ohne Ironie, «der Sprössling eines frühen Fremdarbeiters, und gelegentlich hat man mir nahe gelegt, diesen Umstand doch tunlichst nicht allzu publik werden zu lassen. Weil ... nun, du weisst ja selber, wie die Fremdarbeiter hier zu Lande angesehen sind.»

Die ersten Monate seines Daseins verbrachte der Fremdarbeitersohn in Basel. In einem Heim, von vermögenden Bürgern in vorurteilsloser Güte eigens dazu bestimmt, ledigen Müttern, welche Wert darauf legten, die Früchte ihrer Fehltritte selber aufzuziehen, Unterkunft zu bieten. Vorausgesetzt, sie zeigten sich dankbar genug (schon wieder dieses Dankeschön!), selbiger Bürger schmutzige Wäsche zu waschen. Was die Mutter meines Gegenübers während voller anderthalb Jahre tat. Dann ging sie als Hilfsschwester in ein bei Walenstadt gelegenes Lungensanatorium, wohin sie freilich ihren Sohn nicht mitnehmen durfte. Es hätte gegen die Hausordnung verstossen ...

Sollte sie deshalb auch ihr zweites Kind verlieren? Das wollte sie nicht. Auf die Stellung verzichten? Das konnte sie nicht. Also nahm sie den Jungen mit und suchte ihm ein Pflegeplätzchen. Gegen etliches Geld und gute Worte fand sie es schliesslich bei einfachen Leuten, die sich mit dem Reinigen von Offizierszimmern der Schiessschule von Walenstadt durchschlugen. Allzu viel Zeit, sich um das vaterlose Menschlein zu kümmern, blieb diesen Vize-Eltern darüber nicht, denn es war ein ewiges Kommen und Gehen in den Kasernen und des Saubermachens kein Ende. Oft strolchte der Kleine, tagelang sich selber überlassen, auf dem Exerzierplatz herum, bestaunte die schneidigen jungen Leutnants mit den grünen Kragenspiegeln und dem goldenen Streifen an der Mütze, und da ihm andere ernst zu nehmende männliche Wesen kaum begegneten, adoptierte er sie begreiflicherweise bald allesamt als seine Ersatzväter.

Väter sind Leit-, sind Vorbilder. Vermessener Wachtraum: So werden wie sie! Vermessen? Später, in der Rekrutenschule, kam der Tag, da ihn nur noch ein Blatt Papier von der Verwirklichung seines kühnsten Kindheitstraumes zu trennen schien: das Formular, das diejenigen ausfüllen, die sich freiwillig zur Aspirantur melden. Bei seinem Schulkommandanten stiess D.s militärischer Ehrgeiz indes auf wenig Gegenliebe. Aussprache im Kompaniebüro: «Bin ich denn ein schlechter Soldat? Habe ich je auf Wache geschlafen, beim Üben gemault oder das Gewehr nicht sauber genug geputzt?»

Nein, daran liege es nicht, ganz gewiss nicht. Nur ... die Sache mit dem Vater! Wer Offizier werden wolle, müsse einen Vater vorzuweisen haben, und zwar, wenn sichs einrichten lasse, einen möglichst angesehenen. D. aber habe überhaupt keinen. Und erst die finanziellen Probleme! Offiziere brauchten Geld. Ob er denn welches habe? Er hatte keins. Natürlich nicht. Da hätte seine Mutter damals, als er fünf war, schon einen andern als ausgerechnet das Knechtlein vom Bauerngut des Sanatoriums nehmen müssen!

Bald nachdem sie selbiges geheiratet hatte, zogen die drei weg von Walenstadt. Es verschlug sie in ein winziges Graubündner Bergnest, wo die frisch gebackenen Eheleute Arbeit bei einem Viehhändler fanden. Er als Meisterknecht, sie als Magd. Zusammen verdienten sie zweihundert im Monat. Dazu kam das Wohnrecht in der Gesindestube. Sie war eng und niedrig, aber doch gross genug, dass sich auch für den Jungen ein Ecklein fand. So kam der Kleine zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Zipfelchen annähernd normalen Familienlebens. Entdeckung der Mutter! Bis dahin war sie für ihn eher eine schöne Legende denn ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen. Ein fernes Gestirn, das nur selten aufging, stets nur kurz am Himmel blieb und daher auch nur wenig Wärme abgeben konnte; als Hilfsschwester hatte sie ihren Sohn lediglich jede dritte oder vierte Woche einmal gesehen. Zwischen Walenstadt und dem Sanatorium verkehrte zwar ein Postauto, doch das kostete Geld!

Die zweihundert Franken des Viehhändlers, zu denen noch die Milch und das Holz für die Heizung kamen, reichten haargenau fürs Allernötigste. Mit zum Allernötigsten gehörte, dass der Stiefvater «... der ja am schwersten von uns allen arbeitete und deshalb tierische Proteine am nötigsten hatte ...» wenigstens am Sonntag ein Häppchen Fleisch auf den Teller bekam. Selbst nach Vorkriegsmassstäben lebten die drei also tief unter dem offiziellen Existenzminimum. Trotzdem waren sie zufrieden mit ihrem Schicksal. «Ja, doch, ich glaube schon! Mein Vater und meine Mutter nahmen ihr Dasein, wie es war. Jedenfalls haben sie nie dagegen rebelliert. Und als ich es später tat, mit fünfzehn, sechzehn Jahren, wars ihnen nicht recht. Noch heute glauben meine Eltern nicht an die Veränderbarkeit der Welt. Wenn ich versuche, ihnen zu erklären, weshalb ich den Sozialismus für besser halte als das, was wir hier haben, weshalb ich also nach Kräften gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln kämpfe, dann antworten sie mir: Aber schau, es muss doch auch reiche Leute geben! Wer sonst würde den Armen helfen? - Noch immer können sie sich kein anderes Glück vorstellen als das himmlische...»

Die Familienidylle am Rande des Hungers währte nicht lange. Als die Frau wenige Monate nach ihrer Trauung zum dritten Male schwanger wurde, musste der Junge anderswo untergebracht werden. Man brachte ihn zum ältesten Bruder seines Stiefvaters. Schob ihn ab. Es ist D., der dieses Wort benützt, und aus der Art, wie er es betont, ist das ganze Trauma herauszuhören, das ihm jener neuerliche jähe Wechsel seiner Lebensumstände zugefügt haben muss. Vertreibung aus dem Paradies! Es gibt auch sehr bescheidene Paradiese. In der Arktis zum Beispiel genügt schon ein bisschen Wärme, um eins herzuzaubern!

Ursprünglich sollte die Verbannung nur ein Jahr dauern. Es wurden zwei Jahre daraus, drei. Dann glaubte man, es mit zwei Kindern schaffen zu können, und holte ihn zurück. Doch kurz darauf kam das dritte, und schon reichte das, was Meisterknecht und Magd zusammen verdienten, wieder nicht für alle, so dass der Junge von neuem ins Exil ging. Diesmal zu des Stiefvaters zweitältestem Bruder. Er hatte ziemlich viele Brüder. Fünf oder sechs... Der zweite Bruder besass im sanktgallischen Teil des Rheintales einen kleinen Bauernhof. Was wären kleine Bauernhöfe ohne kleine Jungens! D.s Tagesablauf: Früh um halb sechs stolperte er schlaftrunken in den Stall, mistete aus, dieweil die Bäuerin die Tiere molk, häckselte das Stroh, schüttete Futter in die Krippen. Danach erst wurde er gefüttert. Sein Frühstück: ein «Chacheli» schwarzen Kaffees, in dem grosse Brocken dunkeln Brotes schwammen. Sobald er gegessen hatte, schnallte er sich die «Tanse» auf den Rücken, einen fassartigen, oben offenen Behälter aus Holz, in dem je nach Jahreszeit bis zu 25 Liter frisch gemolkener Milch schwappten, und brachte sie zur Molkerei. Meist barfuss. Nur im Winter, wenn Schnee lag, durften die kostbaren Schuhe angezogen werden. Schuhe mit Holzsohlen. Zwischen Hof und Molkerei lagen sieben Kilometer. Von der Molkerei gings zur Schule. Ihr gehörte der Rest des Vormittags. Mehr Zeit zum Lernen war nicht drin. Zum Nachmittagsunterricht, der fakultativ war, durften nur die gehen, deren Arbeitskraft nicht in der Landwirtschaft benötigt wurde.

Dennoch schlug sich der Junge in der Schule mit Bravour. Trotz aller Schinderei in Stall und Feld gelang es ihm einmal sogar, eine ganze Klasse zu überspringen. Zur Schinderei meint D. heute: «Der Onkel konnte ja nichts dafür. Sich selber beutete er noch krasser aus als mich. Sein Anwesen war wirtschaftlich nur unter äussersten Mühen über Wasser zu halten, wie die meisten Familienbetriebe dieser Grösse, und diese Mühen kosteten ihn und alle, die mit ihm in dieser Tretmühle steckten, einen entsetzlich hohen Preis. Mit fünfzig waren er und seine Frau am Ende, ausgelaugte Greise.»

Allzu viel Zeit für den Schulbesuch blieb D. auch später nicht, als er wieder einmal für zwei, drei Jahre «zu Hause» leben durfte. Dort, in dem bündnerischen Bergdorf, wurde nur im Winter unterrichtet, da... «... wir Jungen über die Sommermonate entweder als Hirten auf die Alp geschickt oder als «Handbuben» an die grösseren Bauern der Umgebung vermietet wurden. Mich verschlug es mehrere Sommer hintereinander in die 2000 Meter über Meereshöhe gelegene Gegend von Avers, das höchste ganzjährig bewohnte Tal Europas. Es lag knapp am Ende der Welt; noch nicht einmal elektrisches Licht hatten sie dort in den späten dreissiger Jahren, lediglich Petroleumlampen. Telefonanschlüsse gab es zwei; den einen zuvorderst im Tal, bei Cresta, den andern zuhinterst, in Juf, und sie zu benützen war ein grosses Abenteuer, weil man erst endlos eine schnurrende Kurbel drehen musste, ehe sich von weit, weit her die Zentrale meldete und per Handvermittlung die verlangte Verbindung herstellte. Die Strasse von Cresta nach Juf war derart schlimm, dass auf ihr mit einer einzigen Ausnahme weder Autos noch Motorräder verkehren durften, denn sie führte an fetten Weiden vorbei, und die hätten unter den von den Motorvehikeln aufgewirbelten enormen Staubwolken gelitten, und auch das Heu, das man an den Hängen erntete, wäre verdorben worden. Die Ausnahme war ein klappriger, uralter Lastwagen, der einmal im Monat durch das Hinterrheintal und die Viamala nach Thusis hinunterratterte, wo sein Fahrer die Einkäufe für das gesamte Tal erledigte. Auch das Brot besorgte er uns. Natürlich wurde es in den Vorratskammern der Bergler mit der Zeit steinhart, und oft war ihm gegen Ende des Monats nur noch mit dem Beile beizukommen.»

Die Alpweiden des Avers-Tals wurden genossenschaftlich genutzt. Desgleichen die zwölf- bis vierzehnjährigen Hütebuben, die man für ein Entgelt von dreissig bis vierzig Franken und ein Paar genagelte Bergschuhe pro Sommer dort hinaufschickte. Je ein Hirtenjunge hatte im Frühjahr die Kühe von mehreren, meist miteinander versippten und verschwägerten Bauern zu übernehmen und wurde von diesen im Herbst, wenn das Vieh wieder ins Tal hinuntergetrieben war, auch gemeinsam entlohnt. «Infolgedessen lag es nahe, dass auch wir sieben oder acht Viehhüter aus dem «Unterland», die wir, während der Sommermonate auf 2000 und etlichen Metern Höhe fast völlig uns selber überlassen, mit der Herde der ganzen Talschaft fertig werden mussten, unsere kleine Genossenschaft betrieben. Praktisch sah das so aus, dass abwechselnd zwei von uns bei den Tieren blieben, dieweil die andern spielten, Hütten bauten, Mäuse fingen und auch Murmeltiere, die es damals noch massenhaft gab. Aus ihrem Fett machte man Rheumasalbe.

Aber auch sonst hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel, denn wir waren völlig aufeinander angewiesen. Vor allem bei Wetterstürzen, wenn der strahlende Hochgebirgssommer von einer Stunde auf die andere in tiefsten Winter umschlug und die Weiden unter dreissig bis vierzig Zentimetern Schnee begrub, was jedes Jahr wenigstens zwei- oder dreimal geschah. Oft brach der Umschlag derart plötzlich und hart über uns herein, dass uns nicht einmal Zeit blieb, unsere Tiere in die auf der Alp vorhandenen Notställe zu treiben. Stets verliefen sich dann etliche Rinder im aufkommenden Schneesturm und mussten tagelang gesucht werden, was mitunter recht schwierig und gefährlich war. Kein Sommer verging, ohne dass wir nicht wenigstens zwei oder drei Kälber und Kühe verloren hätten.

Gegen Ende August kamen die Viehhändler - auch der Arbeitgeber meines Vaters war dabei - über die steilen Bergpfade zu uns hochgeschnauft. Wir verfluchten sie. Hiess doch ihr Auftauchen in Gletschernähe, dass die Alp-Sömmerung mitsamt ihren herrlichen Freiheiten dem Ende entgegenging. Sie kamen, die Jungtiere auf derWeide zu inspizieren. Die schönsten kauften sie gleich von der Wiese weg, und ab gings zum grossen Herbstmarkt zu Thusis im Rheintal, dem grössten Vieh-Umschlagplatz des Kantons, ja der ganzen Schweiz. Bergrinder standen damals, ihrer robusten Gesundheit wegen, hoch im Kurs. Besonders rissen sich um sie die kleinen und mittleren Milchbauern des Mittellandes, die ihren Stallnachwuchs aus Rentabilitätsgründen nicht selber züchten konnten.»

Während seines letzten Alpsommers kam mein Gegenüber in seinen «dienstfreien» Stunden, wenn die Gefährten die gemeinsame Herde hüteten, allerdings kaum mehr zum Hüttenbauen und zur Mäusejagd. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er, der Uneheliche, bereitete sich auf den Übertritt zur Kantonsschule vor! Überredet hatte ihn zu diesem kühnen Vorhaben sein Sekundarlehrer, nicht ahnend, welch ein Unheil er damit anrichten würde. Wie hätte er es denn voraussehen können! Eben erst von der Universität gekommen, noch frisch aufgetankt mit bildungsmissionarischem Eifer, dazu unter dem Eindruck der langen Reihe der Einsen in D.s Zeugnissen, hielt er es einfach für seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diesem besten seiner bisherigen Schüler eine Chance zu geben.

Der Junge ging als Erster von allen Bewerbern durch die Aufnahmeprüfung. Sein Bild erschien sogar in der Zeitung. Mit Lorbeer wurde also nicht gespart.
Leider umso mehr mit allem andern! Gymnasiasten benötigen Schulmaterialien. Lehrbücher, ein Reissbrett, einen Zirkel, eine Mappe und sonst einiges. Dazu Hefte. All das hat seinen Preis. Der Kanton, der die Schule betrieb, gab nichts gratis ab.

Zu Beginn eines jeden neuen Schuljahres wurde vor dem Schulgebäude ein grosser Basar für Lehrmittel aus zweiter Hand abgehalten. Wenn man sich ein bisschen umsah und hart zu feilschen wusste, erhielt man so manches unter seinem Preis. Doch mit weniger als hundert Franken bekam man auch dort seine Siebensachen nicht zusammen. Selbst wenn man noch so zäh schacherte. Hundert ist die Hälfte von zweihundert. D.s Stiefvater verdiente noch immer nicht mehr! Der grosse Familienkrieg brach in der Nacht vor der dritten oder vierten Geometriestunde aus. Der Gedanke, noch einmal ohne Reisszeug, ohne die chromglänzenden Utensilien der Flächen- und Körpervermessungskunst zum Unterricht erscheinen zu müssen, war D. unerträglich. Am Küchentisch wurde geheult, getobt. Schliesslich brachte die Mutter den Jungen mit den Worten: «Schau selber nach im Portemonnaie - wir habens nicht!», zum Schweigen.

Zugegeben, es gab Stipendium. Der Knabe, dessen Bild in Zeitungen zu sehen gewesen war, hatte im Konvikt der Schule freien Mittagstisch. Dazu investierte seine wohlwollende Heimatgemeinde in das tollkühne Unterfangen, als Sohn einer Magd die Höhen der Kultur zu erstürmen, allmonatlich zwanzig Franken. Doch was halfs! Achtzehn Franken gingen drauf fürs Schülerabonnement, für die täglichen zwei Reisen zwischen Rhäzüns und Chur. Blieben zu freier, sonstiger Verwendung ganze zwei Franken.

Gewiss, es waren Vorkriegsfranken, aber D. war ja auch an einem Vorkriegsgymnasium! Seine Kameraden stammten durchweg aus so genannt gutbürgerlichen Verhältnissen, waren Söhne wohlbestallter Veterinäre, Apotheker, waren Sprösslinge von Architekten, Direktoren, höheren Verwaltungsbürokraten und Medizinern. Jeder von ihnen hatte Geld in der Tasche, und mehr als nur zwei Fränklein! So war denn ein grosses Lachen auf dem Schulhof, wenn der Rotzbengel aus der Gesindestube des Viehhändlers beim Essen von Pausenbrezeln oder beim Tisch-Fussballspiel mithalten wollte. Das Fussballspiel musste, damit es den kleinen, weissen Hartkautschukball wieder aus seiner Seitenklappe speie, nach jedem geschossenen Tor mit einem Zehnräppler gefüttert werden.

Dazu kam der Ärger mit der Kadettenuniform. Wer Kantonsschüler war, musste zu den Kadetten gehen. Das gehörte sich so. Vormilitärischer Unterricht für die künftige Elite der Nation war Pflicht und galt als Ehrensache. Das hob einen ab von den übrigen Kindern. Zum Beispiel von den Arbeiterjungen. Aber die Uniform kostete Geld, ziemlich viel sogar! Zumal wenn sie - damit man sich nicht abermals allgemeinem Gelächter aussetze - gut sitzen sollte. Ausserdem musste sie aus Offizierstuch sein. Das ordinäre Mannschaftsfeldgrau wäre für die angehende Elite der Nation ja nun wirklich nicht fein genug gewesen. Und die vielen silbernen Bordüren und Kordeln... Summa summarum: an die dreihundert Franken!
Das war mit dem besten Willen nicht mehr zu schaffen. Also musste eine gebrauchte Uniform her. Ihre Ärmel waren zu kurz. Ihre Hosenstösse ebenfalls. Der Junge sah darin jämmerlich aus. Die Mütze dagegen - auch sie Geschenk eines hochherzigen Wohltäters - fiel ihm wie ein Kaffeewärmer übers Gesicht. Die Mutter machte sie enger, doch schöner wurde sie dadurch nicht.

Derartige Probleme hatte der brave Sekundarschullehrer in seinem gut gemeinten Eifer, Begabtenförderung ohne Ansehen des Geldbeutels zu betreiben, nicht bedacht. Und noch etwas hatte er ausser Acht gelassen: dass die Eltern seines Musterschülers dem Experiment mit abgrundtiefem Misstrauen gegenüberstehen würden. Sie wollten einfach nicht einsehen, wozu da überhaupt studiert werden musste. Nach ihrer eigenen Erfahrung war mit einer soliden Berufslehre besser, viel besser durchs Leben zu kommen. Und dann war ihnen auch der Gedanke unheimlich, dass der Sohn einer Magd und Stiefsohn eines Stallknechts so hoch über den sozialen Rang seiner Eltern hinauskatapultiert werden sollte. Ebenso wenig wie an die Veränderbarkeit der Welt glaubten sie an die Überwindbarkeit von Klassenbarrieren durch Bildung. So kam es, dass die Gymnasialzeit des Mannes, der mir gegenübersitzt, nur vier Monate währte, die Kadetten-Sonnabende inbegriffen.

Im fünften Monat fing er als Heizer in einem Sägewerk an. Ganz in dessen Nähe entstand in jenen Tagen eine grosse Chemie-Fabrik, in der das zersägte Holz zu Treibstoff verarbeitet werden sollte. Damit schienen für den mittlerweile Vierzehnjährigen die Weichen gestellt: Aufbruch ins Proletariat! Das war der Weg, den damals in dem Bergkanton Tausende einschlugen. Tausende junger Landarbeiter und Kleinbauern, die wie D. jeden Morgen per Fahrrad aus den Seitentälern fabrikwärts ins Haupttal hinabsausten, nachdem sie zuvor, noch ehe es richtig hell geworden war, daheim noch schnell die zwei, drei Ziegen oder die letzte im Stall verbliebene Kuh versorgt hatten.

Durch einen seltsamen Zufall kam es anders. Eine Zeit lang hatte ein Amtsvormund über das Schicksal des Jungen gewacht. Da die Behörden an den erzieherischen Leistungen von D.s Eltern jedoch nie etwas auszusetzen gehabt hatten, entliessen sie den Unehelichen bald wieder aus ihrer Obhut. Desungeachtet kam sein ehemaliger Betreuer, der jetzt im Nachbardorf ein anderes Mündel zu beaufsichtigen hatte, aber doch noch gelegentlich vorbei, aus alter Gewohnheit, um auf dem Laufenden zu bleiben. Auch kurz nach dem grossen Kantonsschul-Debakel liess er sich wieder einmal blicken.

Was denn nun werden solle, wollte er wissen. Ja, berichtete die Mutter, sie wüsste schon was, wenn nur ein klein bisschen mehr Geld da wäre. Eine ihrer Schwestern habe in Zürich einen Uhrmacher geheiratet, und der sei bereit, den Bub zu sich in die Lehre zu nehmen, aber dem stehe ein alter Uhrmacherbrauch entgegen, der verlange, dass der Lehrling sein ganzes teures Werkzeug, all die vielen genauen Zänglein und Bohrer, Feilen und Pinzetten und auch die schwarze Lupe, die man sich wie ein Monokel vor das Auge klemme, selber stellen müsse. Ausserdem sei der Schwester ein gewisses Kostgeld zu bezahlen. Zwar nicht viel, aber doch mehr, als man sich mit einer Stube voller kleiner Kinder - inzwischen hatte die Zahl der Geschwister des Jungen weiter zugenommen - leisten könne.

Der Vormund, ein recht wendiger Herr, der damals gerade im Begriffe stand, ein grosser Politiker zu werden, begann zu überlegen. Nun, meinte er, wenn der Junge noch unter Vormundschaft stünde, wäre alles viel einfacher, liesse sich vielleicht etwas machen. Mittels gewisser Hilfskassen und Sonderfonds. Nur eben, der Junge stehe ja leider nicht mehr unter Vormundschaft... Darauf die Mutter: «Und wenn man ihn wieder aufnähme in die Vormundschaft?»Ein ebenso erstaunter wie nachdenklicher Blick wurde ihr zur Antwort. Dass jemand aus freien Stücken nach der Vormundschaftsbehörde rief, war neu. Dann: Das sei so einfach nicht, da werde man nicht aufgenommen wie in einen Verein oder in eine Sekte. Nur wenn schwer wiegende Gründe vorlägen, könne solch ein Gesuch Gnade finden.«Was für Gründe denn?», wollte die Magd wissen.

Der Amtsmann war um eine Antwort nicht verlegen. Da der Bursche ausserehelich und ausserdem der Älteste sei, liesse sich zum Beispiel denken, dass sein Stiefvater nicht mehr so richtig mit ihm fertig werde, dass er bocke, «den Kopf» mache, freche Antworten gebe, kurz, Schwierigkeiten aller Art bereite. Ein Gesuch, in dem derlei stehe, habe Aussicht, angenommen zu werden. Der Mutter leuchtete dies so prächtig ein, dass sie ihren Ratgeber bat, ihr bei der Abfassung des Schreibens doch gleich auf der Stelle behilflich zu sein. Er war es. Voller Freundlichkeit diktierte er es ihr mitsamt der Anschrift in die Feder, so dass sie es nur noch in einen Umschlag zu schieben und abzuschicken brauchte. An ihn. Was noch am selben Abend geschah. Auf dass der Antrag baldmöglichst gutgeheissen werde.

Wenig später war der Weg nach Zürich frei. Wissend, dass alles zu seinem Besten war, auch der wieder gefundene Vormund, durfte der Junge ein weiteres Mal im Hause eines «Onkels» Einzug halten. Eines «Onkels», der auf der Eisenbahn erster Klasse fuhr, im Kirchenchor mitsang und an dessen Tisch jeden Tag so gegessen wurde wie in der Gesindestube des Meisterknechts einmal im Jahr: zu Weihnachten. Der also gottgefällig lebte, gut war und auch Gutes tat. Wofür er Dankbarkeit erwarten durfte. Von allen möglichen Leuten, auch von seiner Frau, denn immerhin hatte er sie geheiratet, ohne auf deren - nun, man weiss es! - etwas zweifelhafte Verwandtschaft zu achten. Und erst recht hatte ihm der neue Lehrling dankbar zu sein. Dafür, dass er diesen etwas Rechtes lernen liess.

Übrigens lernte der Junge bei ihm wirklich etwas. Bereits nach zwei Monaten nahm er Wecker selbstständig auseinander, reparierte sie und setzte sie wieder zusammen, was dem guten Menschen jeweils zwölf Franken einbrachte. Von da an durfte D. den ganzen Tag lang Wecker reparieren. Was eine weitere Gunstbezeigung war. Doch leider wusste sie der Junge aus dem Bündnerland nur mangelhaft zu würdigen. Er erhob Forderungen nach Taschengeld! Ausgerechnet er, der doch, streng genommen, froh sein musste, dass er überhaupt... Keinen roten Rappen kriegte er. Aus erzieherischen Gründen!

Da nahm er sich eben selber, was er benötigte. Er benötigte wenig, doch dieses wenige dringend. Er hatte nämlich einen Freund gefunden. Zum ersten Mal in seinem Leben. Einen, den es überhaupt nicht störte, dass da kein richtiger Vater vorgewiesen werden konnte. Einen, der nicht die Nase rümpfte, wenn Gesindezimmergeruch in der Luft lag. Vor allem deshalb nicht, weil er selber unter Vormundschaft stand und zudem Vollwaise war.

Beide wohnten in derselben Zürcher Altstadtgasse. Beide standen mitten im Stimmbruch, und beide brauchten einander dringend, denn beider Hauptproblem war die Einsamkeit. Auch der Vollwaise ass eines «Onkels» Gnadenbrot; auch er vegetierte an den arktisch-kleinbürgerlichen Randzonen der menschlichen Gesellschaft, aus denen man - darüber waren sich die beiden einig - unbedingt herauskommen musste. Auf zu wärmeren, bewohnbareren Breitengraden, koste es was es wolle! «Es war wirklich nicht viel, was ich damals stahl. Gelegentlich einen Franken oder zwei; wir waren ja lächerlich bescheiden. Zudem rauchten wir noch nicht, so dass wir Geld eigentlich nur benötigten, um sonntags gelegentlich einen verstohlenen Blick ins grosse Leben zu werfen, das heisst ins Kino zu gehen. Das kostete in den Kriegsjahren - ich weiss es noch genau - einen Franken und zehn Rappen, wenn man sich in die vorderste Reihe, in die «Genickbrecherloge» setzte.»

Solch strenge Zurückhaltung, sowohl beim Stehlen als auch in Dingen des Luxus, war zwar gewiss löblich, vermochte den Fluch der bösen Tat jedoch keineswegs von ihren Häuptern abzuwenden. Im Gegenteil, nur allzu rasch wurde ihnen gerade ihre allzu grosse Bescheidenheit zum Verhängnis! Hätte der Uhrmacherlehrling regelmässig in die Ladenkasse gegriffen, wäre Ordnung in seinem Verhalten gewesen und sein an Regelmässigkeit und Ordnung gewöhnter Meister möglicherweise nie dahintergekommen. Da der Junge jedoch sporadisch, also unordentlich klaute, nämlich immer nur dann, wenn er sich nicht anders zu helfen wusste, musste die Sache schief gehen! Zudem beging D. den Fehler, es sich und seinem Freunde hie und da einen Sonntag lang auf völlig bargeldlose Weise gemütlich zu machen. Etwa, wenn die Familie des Uhrmachers in geschlossener Formation zu irgendeiner Kleinbürger-Lustbarkeit ausgerückt war, ohne es für nötig zu finden, auch den Lehrling dazu einzuladen. Dafür bat dieser, wenn die Luft rein war, seinen Kumpel zu sich in die Dachkammer des Uhrmacherhauses, wo er ihn - Gipfel aller Gastgeberwonnen - mit einer Flasche Mineralwasser (ohne Geschmack) zu bewirten pflegte.

Bezogen wurde sie aus dem Keller. Dort standen die Dinger kistenweise herum, so dass das Verschwinden einzelner Fläschchen selbst einem ordentlichen Menschen nicht auffallen konnte. Umso stärker fiel dafür dem ordentlichen Menschen eines schlimmen Sonntagmorgens eine leere Pulle im Lehrlingskabuff auf! Dass der Uhrmacher in den Zimmern seiner Hausgenossen regelmässig geheime Razzien zu veranstalten pflegte, hatten die beiden Mündel nicht ahnen können... Die Folgen des Flaschenfundes waren verheerend. Messerscharf schloss der Meister: «Wer sich widerrechtlich Brause (ohne Geschmack) aneignet, der schreckt auch vor anderen Verbrechen nicht zurück!» - eilte zu Kasse und Hauptbuch und begann zu rechnen. Das Manko war trotz seiner Geringfügigkeit schnell gefunden. Und fast ebenso schnell war die Polizei zur Stelle. Des Weiteren wurden herbeizitiert: der Vormund, die Frau, die dankbar dafür zu sein hatte, dass sie geheiratet worden war, sowie alle übrigen zum Haushalt zählenden Personen. Als das Publikum vollzählig beisammen war, wurde zur Exekution des juvenilen Kriminellen geschritten. Erst flocht man ihn, sämtliche Strophen des Psalms vom grossen Undank absingend, auf das Rad seiner eigenen Schlechtigkeit. Dann röstete man ihn auf dem kleinen Feuer der Reue. Und was schliesslich noch von ihm übrig blieb, zerschmetterte der christliche Ladenbesitzer mit seiner gewaltigen Güte. Er sei bereit, die Strafanzeige wegen Diebstahls zurückzuziehen, sofern sich der Verbrecher, dessen unglückliche Herkunft man doch immerhin bedenken müsse, ernsthaft in sich gehe. Mehr noch, man sei sogar bereit, Verzeihung zu gewähren, schon aus Rücksicht auf die schwer geprüfte Mutter, vorausgesetzt, dass aufrichtig um Besserung gerungen werde...

Der Sünder ging in sich. Gelobte Besserung. Entschuldigte sich sogar bei seinem Wohltäter. Und stahl ihm bei der erstbesten Gelegenheit zwei fabrikneue Uhren, drei goldene Eheringe sowie nicht einen und nicht zwei, sondern diesmal abgezählte fünfzig Franken aus der Ladenkasse. Und floh. «Wir fuhren noch in derselben Nacht per Schnellzug nach Chiasso. Mein Freund hatte die Nase genauso voll wie ich, und beide wollten wir auswandern, möglichst weit weg, mindestens nach Australien. Dass Australien weit weg lag, wussten wir aus Abenteuerschmökern, und etwas Billigeres wäre für uns auf keinen Fall in Frage gekommen. Doch schon in Chiasso gab es Schwierigkeiten. Die Grenze war hermetisch geschlossen, militärisch besetzt.»

Das Einzige, was den beiden Ausreissern dort glückte, war ein längeres Gespräch mit einem Wachposten. Es öffnete ihnen zwar nicht den Schlagbaum, bereicherte sie aber doch um einige für ihr weiteres Fortkommen wichtige Informationen. So erfuhren sie, dass, wer auswandern wolle, ziemlich vieler, zum Teil recht schwer zu erlangender Papierchen bedürfe. Weiter: dass im Augenblick allerdings selbst eine Riesenzahl von Papierchen nichts nütze, weil Krieg sei. Und drittens war von Schmugglern die Rede, die sich weder um Papierchen noch um den Krieg scherten, sondern auf ihre eigene Weise von einem Land ins andere kamen. Auch über die Schmuggler wussten die Soldaten, die sich darüber freuten, dass ihnen zwei, die harmlos aussahen, so aufmerksam zuhörten, allerhand Wissenswertes zu berichten. «Wir hielten uns genau an ihre Tipps, marschierten nicht ganz zwei Stunden in südlicher Richtung bergauf, immer tiefer in die Wälder hinein, und dann waren wir da, wo wir hin wollten, vor einem etliche Meter hohen Maschendrahtzaun, behängt mit Glöckchen. Das war die Grenze. Schon bei der geringsten Berührung begannen die Glöcklein zu läuten. Hundert Meter unter uns patrouillierten Soldaten. Glücklicherweise hatte ich mein Uhrmacherwerkzeug mitgenommen. Die Zangen bewährten sich wie noch nie. Gegen Abend waren wir in Mailand.»

Zuerst erledigten die beiden dort dringende geschäftliche Angelegenheiten. Es ging um die Beschaffung der für die Weiterfahrt erforderlichen Gelder. Sie verhökerten ihre Uhren. Der Betrag, den sie dafür vorgeblättert bekamen, war enorm. Dass die Noten mit dem quadratschädligen Mussolini-Konterfei im letzten Kriegswinter und in der von Partisanenheeren umschlossenen Metropole Norditaliens kaum mehr ihr Papier wert waren, konnten die beiden nicht ahnen. Sodann lenkten sie ihre Schritte zu einer Bank, wo sie ihr letztes Schweizer Geld, einige silberne Fünf-Franken-Stücke, gegen Lire eintauschen wollten. Auch dies bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Sie brauchten sich nicht einmal bis zum Wechselschalter zu bemühen. Deutsche Offiziere, die sich scharenweise in der marmornen Kassenhalle drängelten, nahmen die Jungen schon hinter der Tür beiseite und rissen sich um ihre paar neutralen Silberkröten.

Gegen Abend nahmen die zwei Quartier in einem Hotel, fest entschlossen, die Reise, die so gut begonnen hatte, baldmöglichst fortzusetzen. Gelegenheit dazu erhielten sie schneller, als ihnen lieb war. Mitten in der Nacht donnerten schwere Fäuste und Stiefel gegen ihre Zimmertür; eine bis an die Zähne bewaffnete deutsche Patrouille begehrte Einlass und teilte ihnen nach kurzer Überprüfung des Gepäcks mit, dass man sich im Hauptquartier der Feldgendarmerie nach ihnen sehne. Verhaftung, Verhör. Glücklicherweise erwies sich der Major, der sie ausquetschte, als ein Menschenfreund. Für alles hatte er Verständnis, selbst dafür, dass D. und sein Kumpel um keinen Preis wieder nach Hause zurückwollten, denn dort drohe ihnen, wie sie dem Herrn Offizier mit beschwörenden Worten zu bedenken gaben, Schreckliches, nämlich die Erziehungsanstalt! Der Herr Offizier bedachte es. Wenn dem so sei, meinte er, käme eine Abschiebung über die Grenze natürlich nicht in Frage. Schon weil die Auslieferung Asyl suchender Flüchtlinge gegen das Völkerrecht verstosse. Aber auch aus Australien werde wohl nichts. Von Italien aus führen vorderhand keine Schiffe mehr dorthin. Und so lange zu warten, bis wieder welche führen, dauere zu lange. Ausserdem rücke die Front immer näher. Ungemütliche Aussichten! Nichts wie fort von hier! Es frage sich nur, wohin... Nach einer eindrucksvollen Kunstpause: Ob er, der erfahrene ältere Mann, den netten Jungen einen völlig uneigennützigen Rat geben dürfe?

Er durfte. Gut. Dann empfehle er ihnen, sich stante pede zur SS, zur Wehrmacht oder wenigstens zum Arbeitsdienst ins Reich zu melden, denn dort seien sie - grosses Offiziersehrenwort - vor dem Zugriff ihrer Onkel, Vormünder und sonstiger schweizerischer Instanzen so sicher wie nirgends sonst auf der Welt!
Das leuchtete den beiden Flüchtlingen ein. Noch in derselben Nacht unterschrieben sie ihre Arbeitsdienst-Verpflichtung, und schon am nächsten Morgen wurden sie zusammen mit vierhundert Italienern nach Norden verfrachtet.

Was Fremdarbeitern, mochten es freiwillige oder zwangsrekrutierte sein, während des infernalischen letzten Kriegs- und Bombenwinters im Dritten Reich alles widerfuhr, ist bereits allzu bekannt, als dass es hier noch einmal wiederholt zu werden brauchte. Den beiden Ausreissern blieb wenig davon erspart. Nur einer erstaunlichen Verkettung glücklicher Zufälle ist es zu verdanken, dass sie schliesslich, vierzehn Tage vor Kriegsende, aus dem Untergangschaos einigermassen heil, wenn auch ziemlich abgebrannt und zerlumpt, wieder auftauchten und am rotweissen Schlagbaum zu St. Margreten um Einlass ins teure Vaterland bitten konnten. Der Schlagbaum öffnete sich sehr schnell - sie standen im Fahndungsbuch! Statt den verlorenen Söhnen ein Kalb zu schlachten, legte man ihnen eine Strafanzeige vor. Sie betraf den Diebstahl von 50 Schweizer Franken (in Worten fünfzig), drei (verchromten) Armbanduhren eines bekannten einheimischen Fabrikates sowie mehrerer (noch unbenutzter) echter Eheringe in 585er Gold, verübt an einem schwer geprüften Wohltäter.

Dann steckte man sie ins Gefängnis. Nach einer Woche ging die Zellentür auf, und herein trat D.s Vormund. «Was sollen wir jetzt mit dir anfangen?» «Keine Ahnung.» Eine weitere Woche verstrich. Darauf rückte, schrecklich gewappnet mit seiner ganzen titanischen Güte, D.s «Onkel» an und erklärte vor amtlichen Zeugen, er sei bereit, den jungen Mann ungeachtet dessen, was vorgefallen sei, wieder bei sich aufzunehmen. Eine allerletzte Chance! Goldene Brücke zurück zu Anstand und Tugend... Er, der Uhrmacher, sei willens, das Vergangene zu vergessen, mit dem Mantel der Liebe zu bedecken. Wecker gäbe es nach wie vor genug zu reparieren. Nur, von Taschengeld könne, nach all dem Geschehenen, natürlich weniger denn je die Rede sein...

Der Vormund hielt es für richtig, das Angebot des guten Menschen anzunehmen. Besserungsanstalt wäre die Behörden teurer zu stehen gekommen, und Strafe musste schliesslich sein. Vier Wochen währte die Busszeit, dann brannte der Junge abermals durch. Diesmal mit fünf statt mit fünfzig Franken und nicht mehr ins Ausland - davon hatte er fürs Erste genug -, sondern zu einem Bauern, der ihn als Karrer einstellte. «Das Blöde war nur, dass der Uhrmacher, der meine neue Adresse bald herausgefunden hatte, dem Bauern einen Brief schrieb. Dort stand drin, was für ein übler Bursche ich sei. Zwei Tage darauf kam noch ein Brief. Per Einschreiben, vom Amtsvormund...»

Per Einschreiben, weil darin von Geld die Rede war. Der Lohn des Karrers sei bis auf ein Trinkgeld von monatlich dreissig Fränklein der Vormundschaftsbehörde zu überweisen. Es stünden da nämlich in Sachen D. noch einige Bilanzposten offen. Zum einen müsse all das berappt werden, was der juvenile Rückfallsdieb im Lauf der Jahre seinem es nur gut mit ihm gemeint habenden «Onkel» entwendete. Zum anderen gelte es, die Kosten für einen Satz erstklassiger Uhrmacherwerkzeuge abzustottern. Obschon vom Staate finanziert, seien diese skrupellos ins Ausland verschoben worden. Und drittens habe die öffentliche Hand ihrem Mündel über fast ein halbes Jahr erhebliche Mittel für den Ankauf von Schülerfahrkarten, gültig auf der Strecke Thusis-Chur und retour, vorgeschossen! «Zwei Monate lang habe ich das mitgemacht, dann bin ich wieder untergetaucht. Ein Bäcker stellte mich als Laufbursche an. Da schrieben sie mich abermals polizeilich aus, und als sie mich gefunden hatten, klärten sie auch meinen neuen Brotgeber über mein Vorleben auf, und wieder ging mein Lohn an die Stadtkasse. Darauf zog ich ins Hotelfach um. Natürlich fand mich die Polizei auch dort. Und überall sonst, wo immer ich unterzuschlüpfen versuchte.
Auch zu meinem Verhandlungstermin fanden sie mich. Nachdem es mir gelungen war, mich der Güte meines Onkels endgültig zu entziehen, hatte der nämlich seine alte Strafklage erneuert, damit ich, wenn schon nicht vor ihm, so doch wenigstens vor meinen Richtern bereue...»

Es kam jedoch anders. Statt zu bereuen, muss der Mann, der mir gegenübersitzt und unsere Gläser aus der zweiten Flasche Beaujolais nachfüllt, vor seinen Richtern getobt haben. Möglicherweise ist er ihnen sogar an die Gurgel gesprungen. Genau weiss er nicht mehr, was sich an jenem Tag abspielte. Vielleicht will er es auch gar nicht mehr wissen. Jedenfalls reichte es für eine Einweisung in die Klapsmühle. Die Überprüfung von D.s Geisteszustand nahm ein reichliches halbes Jahr in Anspruch. Ein übles halbes Jahr, in dem ein Gutachten das andere jagte, eines schlimmer als das andere. Von «psychischer Verwahrlosung» war die Rede. Auch von «signifikanter Gefühlsarmut» sowie von «markantem Schwachsinn», gepaart mit «Arroganz».

Indes - so viele seiner Schrauben auch als locker befunden wurden, zur lebenslänglichen Versenkung des Patienten in eine Pflegeanstalt reichte es nicht. Er kam also wieder frei. Und da sein Vormund just in jenen Tagen wieder einmal sehr damit beschäftigt war, voranzukommen im Leben - er stand im Begriff, Regierungsrat zu werden -, liess er auch den Jungen für ein Weilchen in Ruhe. Erst einige Tage vor D.s zwanzigstem Geburtstag - irgendwo in den Amtshäusern muss es eine Maschine geben, die jedesmal klingelt, wenn ein Mündel volljährig wird - entsann man sich seiner noch einmal. Man zitierte ihn herbei, ermahnte ihn väterlich, mit seiner nun anbrechenden Volljährigkeit keinen Missbrauch zu treiben, und zeigte sich geneigt, ihn zur Feier des Tages aus der Vormundschaft zu entlassen. Unter einer Bedingung freilich: dass er all das, was im Lauf der Jahre für ihn getan worden sei, schriftlich anerkenne. Durch Unterzeichnung eines Schuldscheines. Das fix und fertig ausgearbeitete Papier lag auf dem Pult. Seine doppelt unterstrichene Endsumme belief sich auf viertausendundetliches. Sie setzte sich zusammen aus Hunderten von akkurat benannten Einzelbeträgen. Deren erster war vor genau zwanzig Jahren minus zwei Wochen verbucht worden und bezog sich auf Milch, verabreicht an einen Säugling in einem Heim für gefallene Mädchen. Die beiden letzten, klotzigsten Posten waren unter der Rubrik «Gerichtskosten» und als Rechnung für gehabte Vollpension im Irrenhaus verbucht. «Durch meine Unterschriften sollte ich mich zur Abzahlung der Hälfte des Betrages verpflichten. Ich fühlte mich entsetzlich eingeschüchtert, und so unterschrieb ich eben.»

Damit war er zwar befreit aus amtlicher Aufsicht, aber noch lange nicht aus dem Mühlenbezirk der pfahlburgischen Puritanei. Deren Mühlen mahlten langsam. Während dreier Jahre blieb die Unterschrift folgenlos. Dann wurde D. zum ersten Mal betrieben. Vergebens. Es war einfach kein Geld da. Darauf zogen die mit der Sache betrauten Bürokraten «andere Saiten auf» und brachten den Fall vor den Kadi. Hochnotpeinliche Verhandlung. Der Herr Vormund geruhte, den Angeklagten bei der Gelegenheit zu duzen und ihm mit neuerlicher Bevormundung zu drohen.

Das versetzte den jungen Mann derart in Panik, dass er eine zweite Zahlungsverpflichtung unterschrieb. Als er sich wieder gefasst hatte, war es zu spät. Dafür entwickelte er in der Folge die Taktik, immer nur so viel zu verdienen, dass er im unpfändbaren Existenzminimum blieb. «Das ging, bis ich heiratete. Als meine Frau schwanger wurde, fing ich an, normal zu arbeiten. Als kleiner Angestellter der Militärverwaltung brachte ich 650 Franken im Monat nach Hause. Umwerfend viel war das nicht, aber es reichte, wenn auch knapp. Es reichte freilich nur, bis die nächste amtsvormundschaftliche Betreibung ins Haus geschneit kam, begleitet von einer Zwangsvollstreckungsorder mit "Kopie an den Arbeitgeber". Sie bestimmte, dass mein ganzer Lohn bis auf hundert Franken für je vierzehn Tage am Arbeitsplatz gepfändet werden sollte. Meine Frau war damals im achten Monat. Ein Freund, der kurz zuvor sein Staatsexamen als Jurist hinter sich gebracht hatte, setzte ein klug formuliertes Stundungsgesuch auf. Ebenso gut hätte ich ein Loch in die Luft bohren können. Die Zwangsvollstreckung lief weiter. Überdies wurde ich von meinem Arbeitsplatz zum Chef zitiert. Der hatte mich, wie er mir mitteilte, bis dahin für einen anständigen Menschen gehalten. Bis dahin... Ich war so ziemlich am Ende.»

Es drohten nun: Entlassung, Zwangsexmittierung, Zwangsversteigerung der bereits angeschafften Möbel. Und es drohte nicht zuletzt die Neuauflage der Geschichte vom Kinde, das auf die unermessliche Güte seiner Onkel und verschiedener Ämter angewiesen ist, weil sich seine Eltern ausserstande sehen, für seine leiblichen Bedürfnisse aus eigenen Kräften aufzukommen. Dass es schliesslich doch nicht so weit kam, verdankt der Mann, der mir von der andern Seite des Tisches her mit dem letzten Tropfen Beaujolais zuprostet, einem anständigen Kerl, der im letzten Augenblick einsprang und die Zweieinhalbtausend, um die es noch ging, auf den Tisch legte. «Ich ging hin und knallte sie dem Vormundschaftsbeamten vor die Füsse. Er, der mich in den Tagen meiner Zahlungsunfähigkeit geduzt hatte, bückte sich und hob die Noten auf. Sehr zufrieden mit sich. Er versuchte es nicht einmal zu verbergen. Denn im Himmel herrscht bekanntlich über einen reuigen Sünder mehr Freude als über zehn Gerechte, und welch besseren Beweis für meine tätige Reue und meine endliche Umkehr auf den Pfad der Tugend hätte ich ihm bieten können als den, der in bar vor ihm lag, abgezählt und akkurat gebündelt in Scheinen, die das Mass aller Dinge sind und auch das Mass dafür, was einem Amt ein einzelner Mensch wert sein kann ... Von da an hatte ich nie mehr etwas mit Vormündern zu schaffen, womit das Wichtigste aus meiner Biografie erzählt ist.»

Nachzutragen bliebe, dass der Mann, der diese Geschichte zu Protokoll gab, heute einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes ist. Immer wiederkehrendes Leitmotiv seiner Bücher: der verzweifelte Kampf der Schwachen gegen Ungerechtigkeit.

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Der Wahrheit auf die Spur kommen / Klara Obermüller über das Werk von WMD

Gedanken zum Werk von W.M. Diggelmann
Von Klara Obermüller

Die Geschichte, wie er, über Nacht gleichsam, zum Schriftsteller wurde, hat Walter Matthias Diggelmann gern und oft erzählt. Es war kurz nach dem Krieg. Er war nach seinem grossen Flucht- und Ausbruchversuch, der ihn über Italien nach Deutschland, in den Arbeitsdienst und schliesslich ins Gefängnis geführt hatte, in die Schweiz zurückgekehrt und dort, verlaust, verwahrlost und verängstigt, gleich wieder ins Gefängnis und anschliessend in die Heil- und Pflegeanstalt Rheinau eingeliefert worden. Konfrontiert mit Gerichtsprotokollen, psychiatrischen Gutachten und Aussagen der Familie, fing er an, sich zu verteidigen. Er tat es in Form von Briefen: Briefen an die Mutter, die sich von ihm abgewandt hatte, an den Vormund, der ihn nicht verstehen wollte, an jenen Onkel, der dem jungen Uhrmacherlehrling eines geringfügigen Diebstahls wegen mit der Erziehungsanstalt gedroht und ihn damit in die Flucht geschlagen hatte, Briefen an Behörden, die ihn wie einen Verbrecher behandelten - kurz an all jene, die vorgaben, die Wahrheit über ihn zu wissen und doch keine Ahnung hatten, was in ihm vorging und wer er wirklich war. Diese Briefe waren die ersten Geschichten des späteren Erzählers Walter Matthias Diggelmann.
(...)

Bis seine ersten beiden Bücher, der Fliegerroman "... mit F-51 überfällig" und das Jugendbuch "Die Jungen von Grand-Dixence", erschienen, sollten allerdings noch fast zehn Jahre vergehen, Jahre, während deren Diggelmann nach eigener Aussage 18 Romane schrieb, die er samt und sonders wieder verbrannte. Was immer in diesen Manuskripten gestanden haben mag, eins ist sicher: Es müssen Geschichten über sein Leben gewesen sein, Versuche, seine Wahrheit der Wahrheit seiner Umwelt entgegenzustellen. (...)

Die Suche nach der Identität ist das bestimmende Thema in Diggelmanns Leben und Schreiben geworden. Am 5. Juli 1927 als uneheliches Kind in Zürich geboren, verlebte er eine unbehauste Kindheit, mal in Heimen, mal bei Pflegeeltern und schliesslich, nach der Heirat seiner Mutter, im Hause seines Stiefvaters im bündnerischen Rhäzüns. Dort war und blieb das Kind mit dem anderen Namen bis zuletzt ein Aussenseiter, der in dreifachem Sinne nicht dazugehörte: als Unehelicher nicht, als Zürcher nicht und nicht als Protestant unter lauter Katholiken. Hinzu kam, dass die Familie arm war und nichts besass, womit sie sich hätte Geltung verschaffen können. Für Diggelmann wurde diese Jugend prägend. Da er nicht zu denen gehörte, die sich mit Fäusten zur Wehr setzen, verlegte er sich aufs Lernen. Er konnte eine Klasse überspringen und setzte fortan seine ganze Hoffnung auf den Übertritt in eine höhere Schule in Chur. Die Aufnahmeprüfung schaffte er spielend, nachdem er als Hüterbub zuhinterst im Avers mit Büchern auf den Knien seine Ziegen und Schafe beaufsichtigt hatte. Doch zu halten vermochte sich das Armeleutekind, dem Fahrgeld und elementarste Lehrmittel fehlten, auf dem Gymnasium nicht lange. (...)

Vieles von dem, was Walter Matthias Diggelmann in späteren Jahren tun und sagen sollte, lässt sich im Grunde auf diese frühen Verletzungen, auf das Trauma seiner Herkunft und Geburt, zurückführen: sein Ehrgeiz, sein Haschen nach Erfolg und Statussymbolen wie schnellen Autos, teuren Wohnungen, schicken Restaurants, sein Versuch, in die freisinnige Partei aufgenommen zu werden, seine verzweifelte Suche nach Liebe und Anerkennung und auch sein lautes, bisweilen provozierendes Auftreten, mit dem er nur allzu oft genau das Gegenteil von dem erreichte, wonach er sich eigentlich sehnte. (...)

Diggelmanns Mittel war die Sprache, war das Schreiben. Mit Geschichten hat er sich nicht nur Geld, Erfolg und Anerkennung verschafft; mit Geschichten hat er sich auch jene Legitimation erkämpft, die er so schmerzlich vermisste. Nur wer eine Geschichte habe, gelte etwas in dieser Gesellschaft, schrieb er im Roman "Freispruch für Isidor Ruge". Und er hat sich, notfalls mit Lügen, diese Geltung ertrotzt. Es gibt kaum ein Buch von ihm, in dem die unklare Herkunft des Erzählers und der Versuch, sie zu ergründen, nicht eine ganz zentrale Rolle spielte. Bis zum Überdruss hat er das Thema seiner vaterlosen Geburt strapaziert. Mit unstillbarer Sehnsucht hat er nach Vätern und nach Orten geforscht, aus denen er seine Herkunft hätte ableiten können. (...)

Das Thema der Identitätssuche zieht sich als ein Grundtenor durch alle seine Werke. Lange bevor Max Frisch seinen Gantenbein sagen liess "Ich probiere Geschichten an wie Kleider", hat Walter Matthias Diggelmann für sich diese Überlebensstrategie entwickelt: Geschichten erfinden zu seinen Erfahrungen, Geschichten ausprobieren wie Rollen auf dem Theater, Geschichten vorbringen zur Verteidigung der eigenen Position, Geschichten als Bollwerk gegen die Welt, Geschichten als Halt und Ort, sich seiner selbst und der eigenen Wahrheit gewiss zu werden. (...)

Überhaupt waren Leben und Schreiben bei ihm nur schwer auseinanderzuhalten. Und dies in einem doppelten Sinne: Sein Leben bot ihm den Stoff für seine Erfindungen, und schreibend lebte er, solange er konnte. Im Tagebuch seiner Krankheit, "Schatten", hat er diese ihm wesentliche Dialektik von Leben und Schreiben in die Worte gefasst: "Ich erfinde mich selbst, ich erfinde mich immer wieder selbst. Ich sterbe erst, wenn ich nichts mehr erfinden kann. Ich bin tot, wenn ich nichts mehr erfunden habe. Ich bin erst tot, wenn ich schweige." Und er hat recht behalten. Als er, wenige Wochen vor seinem Tod am 29. November 1979, das Aufnahmegerät, dem er noch seine letzten Erzählungen diktiert hatte, aus der Hand legte, war allen klar, dass er mit sich abgeschlossen hatte und nun konsequent, wie er gelebt hatte, auf das Ende zuging. (...)

Das Erscheinungsjahr der "Hinterlassenschaft" setzt eine klare Zäsur in Diggelmanns literarischer Biographie. Drei Jahre zuvor hatte "Das Verhör des Harry Wind", diese beissend-ironische Abrechnung mit der Werbewelt, in der der Autor selbst sich eine Zeitlang seinen Lebensunterhalt verdient hatte, den eigentlichen Durchbruch zum Erfolg gebracht. Die ein Jahr später erschienenen Erzählungen in dem Band "Die Rechnung" zeigen ihn auf der Höhe seines erzählerischen Könnens. Diggelmann wurde zu Lesungen eingeladen, begann Kolumnen zu schreiben und gehörte bald einmal zu den Bekanntesten unter den sog. Jungen Schweizern oder Nonkonformisten, wie man damals die literarisch erwachsen gewordenen Kinder Frischs und Dürrenmatts zu nennen pflegte. Das gesellschaftspolitische Moment spielte bei ihnen zwar eine tragende Rolle, eindeutig politische Optionen jedoch fehlten fast ganz. Das änderte sich bei Diggelmann mit der Arbeit an der "Hinterlassenschaft", jenem Roman, zu dem er erstmals in seinem Schaffen weniger durch eigenes Erleben als vielmehr durch einen Anstoss von aussen gekommen war.

Aufgeschreckt durch den Bericht eines Bekannten über das Pogrom von Thalwil, machte er sich daran, die Hintergründe und Hintermänner jener antikommunistischen Hetzjagd zu ergründen, die im Anschluss an den Ungarnaufstand von 1956 dem Marxisten Konrad Farner und seiner Familie das Leben auf Jahre hinaus zur Hölle gemacht hatte. Wäre Diggelmann Journalist gewesen, er hätte sich mit einer Reportage der Ereignisse begnügt; doch Diggelmann ging als Geschichtenerzähler an seinen Stoff heran. Mit der Figur des seine Herkunft erforschenden David-Boller-Fenigstein brachte er nicht nur sich selbst in den Roman ein, er benützte die Schilderung der Ereignisse gleichzeitig auch zur Untermauerung einer These, die zu jener Zeit absolut schockierend gewesen sein muss. Sie lautete: "Die antikommunistischen Brandstifter von heute sind weitgehend identisch mit den faschistischen Brandstiftern des Antisemitismus der dreissiger Jahre und den sogenannten 'Vaterländischen' (lies Anpasser) der vierziger Jahre."

Indem Diggelmann diese These mit einer Fülle noch unbekannter oder willentlich verdrängter Fakten, allen voran den Erkenntnissen des bereits 1954 erschienenen, von der Öffentlichkeit jedoch weitgehend totgeschwiegenen Ludwig-Berichts, belegte, versuchte er eine Diskussion über die schweizerische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg in Gang zu setzen, die damals Edgar Bonjours Untersuchung über "Die Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg" wurde vom Bundesrat noch unter Verschluss gehalten, und Häslers Report "Das Boot ist voll" war noch gar nicht geschrieben in der Schweiz noch nicht einmal ansatzweise stattgefunden hatte. (...)

Kann sein, dass Diggelmann sich ... zu viel vorgenommen hatte. Jedenfalls hat er keines seiner Bücher so oft umgearbeitet, mit keinem so viel Mühe gehabt, einen Verleger zu finden, und keiner seiner Romane hat ihm im nachhinein so viel Scherereien eingebracht wie gerade dieser. Der perfideste Anwurf kam von Seiten des Zürcher Buchhändlers Alfred Rascher, der Diggelmann der Mitgliedschaft in der Waffen-SS bezichtigte, der lächerlichste von der Berner Polizei, die eine Diggelmann-Lesung unter dem Vorwand des fehlenden Hausierer-Patents zu verhindern suchte. (...)

Zwei Jahre später brachen dann das Erscheinen einer DDR-Lizenzausgabe und die darin vom Autor selbst vorgenommenen, den Ungarnaufstand betreffenden Änderungen Diggelmann politisch vollends das Genick. Er war von Stund' an nicht nur als Nestbeschmutzer, sondern als "Linker", als "Marxist" und "DDR-Sympathisant" verschrien und brauchte entsprechend nicht mehr ernst genommen zu werden. Ein anderer hätte sich in dieser Situation vielleicht besonnen, wäre in sich gegangen und hätte sein Tun und Denken überprüft. Nicht so Walter Matthias Diggelmann. Er sagte sich: "Jetzt erst recht. Wenn ihr mich schon so sehen wollt, dann sollt ihr mich auch so haben!" und gab sich hinfort selbst als ein Linker zu erkennen. (...)

In den Reihen der Linken hat er schliesslich auch jenes Zugehörigkeitsgefühl gefunden, nach dem er sich Zeit seines Lebens gesehnt hatte. In den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft haben seine Bücher hohe Auflagen erreicht, in der DDR, in Ungarn und in der Sowjetunion ist ihm als Autor eine Anerkennung zuteil geworden, wie er sie bislang nicht gekannt hatte. So ist die Identifikation mit dem Marxismus eine ganz wichtige Etappe auf Diggelmanns Weg zu sich selbst geworden. Für einen Autor, der sich hierzulande als "literarischer Gartenzwerg" (Walter Hofer), als Nestbeschmutzer und Enfant terrible der Kulturszene mehr und mehr ins Abseits gedrängt sah, bot die neu gewonnene Zugehörigkeit eine Kompensation und einen Halt in einer Existenz, der von allem Anfang an so etwas wie die feste Verwurzelung gefehlt hatte.

In einer ganzen Reihe von Ereignissen ist Diggelmann fortan als Engagierter und Oppositioneller in der Öffentlichkeit aufgetreten und hat Partei ergriffen für diejenigen, denen seiner Meinung nach Unrecht geschah. (...)

Unverbesserlicher Aufklärer, der er war, konnte er im Grunde den Gedanken nicht ertragen, dass alles für immer so bleiben sollte, wie es nun einmal war. Ob Menschen oder Verhältnisse, Diggelmann hielt sie für geworden und folglich auch für veränderbar. Die Unerbittlichkeit, mit der er Missstände anprangerte und Bestehendes über den Haufen warf, wenn es ihm unakzeptabel erschien, hat ihm selbst und denen, die mit ihm zu tun hatten, das Leben nicht immer leicht gemacht. (...)

Bei einem Autor, der Leben und Schreiben so wenig auseinanderzuhalten vermochte wie Diggelmann, verwundert es nicht, wenn die Brüche seiner äusseren Biographie sich auch in der inneren Entwicklung seines Werks widerspiegeln. Ereignisse wie die Scheidung seiner ersten Ehe und die damit verbundene schmerzliche Trennung von seinen Kindern sind geschickt in den Roman "Die Vergnügungsfahrt" hinein verwoben. Gleichzeitig bedeutet dieses Buch auch das Ende jener explizit gesellschaftspolitisch ausgerichteten Phase im Schaffen Diggelmanns, die mit dem "Verhör des Harry Wind" begonnen und mit der "Hinterlassenschaft" ihren skandalträchtigen Höhepunkt erreicht hatte. Mit "Freispruch für Isidor Ruge" und dem Roman "Ich und das Dorf" kehrte Diggelmann, formal zumindest, wieder in der Nähe seiner aus persönlichem Erleben schöpfenden erzählerischen Anfänge zurück. Im Geschichten-Erzählen, nicht in der Analyse und auch nicht im grossen epischen Duktus lag Diggelmanns Stärke das hatte er erkannt und sich in seinen letzten Jahren noch einmal ganz dieser seinem Naturell und seinen Fähigkeiten gemässen Kunst gewidmet. Ähnlich wie in der "Vergnügungsfahrt", nur viel direkter noch, verarbeitete Diggelmann auch die Trennung von seiner zweiten Frau, den Abschied von seinem Haus und den Tod seines geliebten Bruders in einem Roman, "Aber den Kirschbaum, den gibt es", der allerdings bereits kein Roman im eigentlichen Sinne mehr ist, sondern ein Strauss von Geschichten, die sich wie Variationen aneinanderreihen und nur noch durch ihr gemeinsames Thema, den Tod, den Abschied, den Verlust, zusammengehalten werden.

Was danach folgte, hatte, mit Ausnahme des wenig geglückten Romans "Der Reiche stirbt", bereits den Charakter einer Bilanz und liest sich heute vielleicht mehr als damals wie die späte Ernte eines Menschen, der mit leichter Hand noch einmal all die Themen anklingen lässt, die ihn sein Lebtag begleitet und umgetrieben haben. Der letzte noch zu seinen Lebzeiten erschienene Roman "Filippinis Garten" zeigt Diggelmann von einer Seite, wie man sie zuvor an ihm nicht gekannt hatte: Noch sind die gewohnten Themen alle da, aber sie wirken wie aus der Distanz gesehen. Es ist, als beginne sich da einer leise und wehmütig aus den Verstrickungen zu lösen, die ihn im Leben gefangen genommen hatten. Ausser "Filippinis Garten" lassen nur die etwa zur gleichen Zeit entstandenen Gedichte und Balladen schon etwas von jener Ruhe und Gelassenheit ahnen, die Diggelmann wenig später auf seinem schweren Gang in die tödliche Krankheit begleiten sollten.

In "Schatten", dem Tagebuch dieser Krankheit, ist Walter Matthias Diggelmann dann endgültig bei sich selbst angekommen. Was als Protokoll eines Abschieds gedacht war, sollte zu seinem eigentlichen literarischen wie menschlichen Vermächtnis werden. Wenige Tage nur nach seinem Eintritt ins Krankenhaus, als sich schon der fatale Befund Krebs abzuzeichnen begann, bat Diggelmann um ein Diktiergerät, das es ihm erlaubte, seine Gedanken, die seine gelähmte rechte Hand nicht mehr niederschreiben konnte, auf Band zu sprechen. Dieses Diktiergerät hat ihn bis in die letzten Wochen seines Lebens hinein begleitet. Mit seiner Hilfe hielt er die Verbindung zu seinem ureigensten Medium, der Sprache, und damit zum Leben aufrecht. Ihm hat er in langen anstrengenden Stunden anvertraut, was ihn angesichts des nahen Todes beschäftigte: die Frage nach Ursache und Sinn des Lebens, die Frage "Warum ich? Warum jetzt? Warum so?", die ihn noch ein letztes Mal mit der Grundfrage seines Lebens nach sich selbst und seinem Herkommen konfrontierte. Und hier, erst hier fand der Rebell, der an allem gerüttelt, gegen alles gewütet hatte, was ihn störte, am allermeisten gegen sich selbst, hier fand Walter Matthias Diggelmann zur Ruhe und zu sich selbst.

Aus: "Der Tag erzählt seine eigene Geschichte". Ein Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klara Obermüller, Benziger 1992 (stark gekürzt)


"Er kleidet die Wahrheit in Geschichten"

Zum ersten Band der Diggelmann-Werkausgabe

Ende August ist der erste der insgesamt sechs Bände umfassenden chronologischen, sorgfältig gestalteten Werkausgabe von Walter Matthias Diggelmann erschienen, herausgegeben von Klara Obermüller: "Geschichten um Abel"... und ausgewählte frühe Erzählungen. Von Jean Villain, dem in der Ex-DDR lebenden Schweizer Publizisten, stammt eine ausführliche biografische Einleitung, "Bericht aus der pfahlburgischen Puritanei", von Roland Links, dem früheren Diggelmann-Lektor im Ost-Berlin-Verlag "Volk & Welt", ein literarischer Essay unter dem Titel "Ein Leben in Geschichten"; die beiden Beiträge helfen viel bei zum bessern Verständnis des Autors aus heutiger Sicht.

Diggelmanns erster Roman "Geschichten um Abel" kam 1960 heraus, seine frühen Erzählungen - "Die Rechnung", "Der Stammgast", "Der Mitschuldige", "Aus den Anfängen eines Dichters", "Kurz vor dem Ende", "Ein Urlauber" - wurden 1963 unter dem Titel "Die Rechnung" veröffentlicht. Bereits diese ersten Geschichten kreisen um die Themen und Konflikte, mit denen sich der Autor bis zuletzt auseinandergesetzt hat: Suche nach der eigenen Identität und dem Sinn des Lebens, Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, Verlassenheitsängste. Es lohnt, die stark biografisch gefärbten Erzählungen voller Fabulierlust wieder zu lesen. Diggelmann selbst meinte: "Die grösste Gefahr besteht darin, dass der Geschichtenerzähler beginnt, die ganze Welt nur noch als Geschichte zu erleben. So wird die Welt immer mehr zur Erfindung, der Realitätsbezug nimmt ab. Weil ich diese Gefahr spürte, gab ich auch von Zeit zu Zeit das Nur-Schreiben auf und stieg für einige Monate in irgendeinen Job ein."

Die Werkausgabe hat zum Ziel, Walter Matthias Diggelmann gut zwanzig Jahre nach seinem allzu frühen Tod nicht nur als politisch Engagierten zu zeigen, der, seiner Zeit voraus, stets für die Schwachen der Gesellschaft und für Gerechtigkeit kämpfte und mit seiner rebellischen, selbstzerstörerischen Art oft aneckte, sondern auch als Schriftsteller der leisen, manchmal poetischen Töne neu zu entdecken.