Va‘ pensiero

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

296 Seiten

CHF 24.00, EUR 24.00

ISBN: 978-3-85990-121-6


7 Rezensionen

Frei denken und frei leben – das könnte als Motto über dem Leben von Sergio Giovannelli stehen, italienischer Arbeiter und Schweizer Bürger, sozial engagierter Freidenker und wacher politischer Geist, seit seiner frühesten Jugend auf der Suche nach einem gerechteren Leben für alle.

Aufgewachsen in den schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahren in einer ligurischen Arbeiterfamilie, kommt er 1963 in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben – nicht nur im materiellen Sinn – in die Schweiz. Doch das „helvetische Paradies“ ist anders als erträumt: In den 1960er- und 1970er-Jahren werden Fremdarbeiter „per Stück“ gezählt, Arbeitgeber mischen sich mit grösster Selbstverständlichkeit ins Privatleben ihrer ausländischen Arbeitnehmer ein, und eine Überfremdungsinitiative jagt die andere. Die Angst, zurückgeschickt zu werden, ist allgegenwärtig. Doch anstatt sich anzupassen und stillzuhalten, engagiert sich Sergio Giovannelli gegen die Fremdenfeindlichkeit, setzt sich ein für die Vernetzung und Integration der italienischen Migranten und nimmt so weit als möglich teil am politischen und gewerkschaftlichen Leben in der Schweiz. Was ihm dabei hilft, ist sein eigenständiges Denken und seine Kraft, sich die Welt anders vorzustellen, als er sie vorfindet: Seit frühester Jugend schreibt er Gedichte, später Artikel für Zeitungen, er liest, fotografiert und eignet sich autodidaktisch ein immenses Wissen an.

Die Schweiz wird ihm langsam zu einer neuen Heimat, nicht zuletzt dank der geteilten Überzeugungen und der grenzüberschreitenden italienisch-schweizerischen Partnerschaft mit seiner Frau Judith. Trotzdem bleibt Italien der wichtige Wurzelgrund seines Lebens, ein Bezugspunkt bis heute.

Rezensionen

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Fremdarbeiter aus Ligurien

P.S. / 5.7.07

Sergio Giovanelli Blocher kam als Migrant in die Schweiz zur Zeit Schwarzenbachs, wo ein Italiener noch keineswegs als "Einheimischer" galt. Er erzählt aus seinem Leben und seinem linken Engagement.

Wie hat er das überlebt? Kahle Armut, ständige Geldnot, quälende Ängste, faschistische Wirren, böswillige Kirchenleute, familiäre Demütigungen prägen die Kindheit. Körperliche Verstümmelungen, seelische Verletzungen hinterlassen Narben, Selbstzweifel plagen, doch der Geist bleibt frei. Der Überlebenskampf schärft die Sinne für soziale Gerechtigkeit und weckt den politischen Geist. Die Suche nach Arbeit und einem eigenständigen Leben führen in die Schweiz. Über die Arbeitsstellen gibt es wenig Gutes zu berichten. Er erlebt Rassismus und Xenophobie in der angeheizten Stimmung der Überfremdungsinitiativen. Ausgrenzung kennt keine Landesgrenzen, sie setzt sich fort in miesen Arbeitsbedingungen, kargem Lohn, erbärmlichen Wohnmöglichkeiten.

Handelnder
Er gibt nicht auf. Sich nichts anmerken lassen, weiter kämpfen, nur notfalls sich fügen. Das Opfer von Zufällen, Unfällen und willentlichen Übergriffen verharrt nicht im Elend, bleibt unermüdlich sozialpolitisch solidarisch Handelnder. Er schliesst sich der Colonia Libera Italiana, den Religiösen Sozialisten und friedenspolitischen Gruppen an. Lernhungrig besucht er Tagungen und Kurse. Er hat kleine Erfolge, lernt Artikel schreiben, kann in der Freizeit als Journalist mit Presseausweis gut recherchierte Berichte verfassen. "Er schreibt, um Ideen zu verbreiten und nicht, um Geld zu verdienen." Er ist schüchtern, aber schonungslos offen mit sich selbst und unzimperlich mit anderen, wenn es um Unrecht geht. Er ist ein Linker, keiner mit parteipolitischen Grundsätzen, sondern mit eigenen linken Überzeugungen. Er findet spät die ersehnte Partnerschaft mit Judith, ein Beispiel von gegenseitigem Vertrauen und Unterstützung.

Tabubrecher
Er bleibt verwurzelt in Italien und fasst langsam Wurzeln in der Schweiz. Er beobachtet scharf, schaut genau hin, erinnert sich phänomenal, bricht alle Tabus. "Es war, es ist Leben", schreibt er am Schluss. Er überbrückt Gebrochenes mit Geduld und Sensibilität und findet endlich Ruhe. Ich kenne Sergio seit fast vierzig Jahren, jetzt beginne ich, ihn zu verstehen. Der Titel "Va’ pensiero" – die erste Zeile des Gefangenenchors von Nabucco, neu interpretiert von Zucchero – passt zu seinen oft eingezwängten Lebenssituationen und seinem freidenkenden, unabhängigen Geist.
Marianne de Mestral

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Betrachtungen eines Gastarbeiters

Pirmin Meier / Schweizer Monatshefte / 11/07

Mit "Va' Pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Li­gurien" legt Sergio Giovannelli ein Dokument vor, das über seinen Wert als autobiographische Studie hinaus repräsen­tativ wird für eine nunmehr bereits historisierte Phase der neueren Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz. Es handelt sich um jene von der Hochkonjunktur geprägte Phase der Migration in der Mitte des letzten Jahrhunderts, bei welcher Italiener - teils als Saisonniers, teils als Daueraufenthalter - das Erscheinungsbild des Ausländers in der Schweiz mehr als alle anderen Zuzüger prägten.

"Und die Italiener fuhren zu Tausenden ab, gesellten sich im Ausland zu jenen Millionen, die schon vor ihnen gegangen waren; nach Übersee, Nord- und Südamerika, Australien und eben: Nordeuropa. Möglicherweise gab es geheime Abkommen der italienischen Regierung mit den ausländischen Arbeitgeber­vereinigungen, mit dem Ziel, den sozialen und politischen Druck im Innern abzuschwächen und aus stark politisierten Arbeitern, wie sie beispielsweise aus dem Raum Genua und der Emilia-Romagna kamen, eine willige anonyme Masse zu bil­den, mit wenig Rechten und einer Unmenge Pflichten, manö­vrierbar je nach Hochkonjunktur oder Rezession."

Ob diese Darstellung für die damalige Einwanderungswelle vollum­fänglich zutrifft, darf im Detail bezweifelt werden. An der Wahrhaftigkeit des Verfassers gibt es indes keinen Zweifel. Für ihn und seinesgleichen trifft der Hinweis auf die starke Politisierung der Gastarbeiter ohne Zweifel zu. Giovannelli war in der linken Colonia Libera Italiana organisiert, die sich ursprünglich scharf von der antikommunistischen Konkurrenz der Christlichen Arbeitnehmervereinigung ACLI abhob. Erst zur Zeit der Überfremdungsinitiativen kamen die Organisationen einander näher, so wie über­haupt der politisierende Arbeiter Giovannelli bei kirchli­chen Organisationen, etwa der katholischen Paulus-Akade­mie in Zürich, nach eigenem Zeugnis stets eine aufgeschlossene Aufnahme fand.

Sergio Giovannelli war - als engagierter linker Gewerk­schafter, Funktionär und Publizist im Umfeld der organi­sierten lnteressenvertrerung - im Vergleich zur grossen Mehrheit der italienischen Einwanderer wohl ein über­durchschnittlich politisierter Gastarbeiter. Trotzdem und vielleicht sogar deswegen ist seine Autobiographie als zeit­geschichtliches Zeugnis in höchstem Grade aussagekräftig. Wie es Sergio Giovannelli gelingt, etwa am Beispiel seines Stiefvaters und seiner Mutter, das Milieu der norditalieni­schen Arbeiterschaft um La Spezia einzufangen, erinnert in der Anschaulichkeit der atmosphärisch starken Schilderung dann und wann an Filme von Vittorio de Sica und Luchino Visconti. Das eigene, von seelischen wie auch physischen Verwundungen geprägte Schicksal erfährt - jenseits yon Selbstmitleid - eine erschütternde Glaubwürdigkeit. Dann und wann ist auch eine gesunde Portion Selbstironie mit im Spiel, besonders wenn es um das fragile Verhältnis zum an­deren Geschlecht geht.

Zeitgeschichtlich wertvoll und erzählerisch vergnüglich sind die mit "II pane degli altri" überschriebenen Kapitel über die verschiedenen Arbeitsstellen zu lesen, einschlies­slich des starken Motivs "Bahnhof", der Charakterisierung patriarchaler Arbeitgeber und matriarchaler Zimmerver­mieterinnen, der biederen dörflichen Behördenautorität, der Bemühungen um die deutsche Sprache und des Zerris­senseins zwischen alter und neuer Heimat. Die lebensvollen Stellenporträts als Faktotum im Bären in Gerzensee, als Portier- und Badegehilfe im Bad Lostorf bei Olten, als Buffet- und Küchengehilfe in einem Basler Café, als Mon­teus in Bern und schliesslich als Mechanikes bei Wyss in Aarau sind realitätspralle Schilderungen nicht nur sozialer, sondern auch menschlicher Verhältnisse.

Dass sich der Verfasser "Sergio Giovannelli-Blocher" nennt, ist als Hommage an seine Frau Judith gemeint, die ehemalige Sozialarbeiterin und heutige Schriftstellerin. Der politische Leser liest es jedoch anders: "Ich bin der Schwager von Christoph Blocher, habe mich aber in keiner Weise von ihm vereinnahmen lassen." Wie auch immer: die Memoiren von Sergio Giovannelli sind denkwürdig genug, um als literarisch ansprechendes und menschlich glaub­würdiges Zeitdokument auch ohne den Namen des letzt­verbliebenen Feindbildes der schweizerischen Linken be­stehen zu können.

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Eine geglückte Integration

Tobias Kästli / NZZ am Sonntag / 30.12.07

Der Mann von Judith Giovannelli-Blocher erzählt die Geschichte seiner Emigration

Sergio Giovannelli wuchs in Verhält­nissen auf, wie man sie heute wohl nur noch in der Dritten Welt findet. 1935 in einem kleinen Dorf in der Nähe von La Spezia geboren, erlebte er die Kriegs­jahre, die deutsche Besetzung und die Befreiung durch die Alliierten. Sein faschistisch gesinnter Vater starb noch vor Kriegsausbruch. Dort, wo seine Mutter mit ihrem neuen Partner, einem Kommunisten, wohnte, richteten die Deutschen eine Geschützstellung ein. Das Paar mit den zwei Kindern musste wegziehen, fand in einem feuchten Kel­lerloch Unterkunft. Der kleine Sergio wurde losgeschickt, um Lebensmittel zu suchen oder zu stehlen, und wenn er nicht genug nach Hause brachte, wurde er verprügelt. Seine Schulbildung blieb sehr rudimentär. Als junger Mann war er Taglöhner und Hilfsarbeiter.

1963 reiste er erstmals in die Schweiz, fand Arbeit als Küchenbursche im "Bären" in Gerzensee. Danach war er Hilfsgärtner in Aarau, später Arbeiter in einem Betrieb für optische Geräte. Trotz einer teilweise gelähmten Hand war er geschickt genug, den Status eines Fach­arbeiters zu erreichen. Er lebte allein und in schlechten Unterkünften, schick­te einen grossen Teil seines Lohns der Mamma. Die Welt öffnete sich für ihn erst, als er der Colonia Libera Italiana beitrat, sich gewerkschaftlich engagierte, in der Friedensbewegung und in der Anti-AKW-Bewegung aktiv wurde und Freunde in der religiös-sozialistischen Bewegung fand.

Er bildete sich weiter, schrieb für die Gewerkschaftspresse, machte das Foto­grafieren zu seinem Hobby. Auf einer von der Paulus-Akademie organisierten Bildungsreise nach Polen 1978 geschah es: Er, der an Minderwertigkeitskomple­xen leidende und trotz seinen 43 Jahren immer noch schüchterne Italiener, ver­liebte sich in eine selbstbewusste, etwas ältere, sozial engagierte und sehr intel­ligente Frau. Sie, die Sozialarbeiterin und Co-Rektorin der Schule für Soziale Arbeit in Bern, erwiderte seine Liebe, und die beiden heirateten.

Sergio Giovannelli hat seinen Text in Italienisch geschrieben. Es ist ein Glücks­fal, die Geschichte eines Fremdarbeiters aus erster Hand mitgeteilt zu erhalten. Bei der Übersetzung ins Deutsche half seine Frau Judith, seIber Autorin und Verfasserin mehrerer Bücher. Aber es ist ersichtlich das Werk Sergios, das wir vor uns haben. Es sind seine Gedanken, seine Empfindungen, sein Stolz, seine Zerknirschung und seine kleinen Eitelkeiten, die da zum Ausdruck kommen. Selten ist etwas so Authentisches zum Problemkomplex Armut, Emigration und Integration geschrieben worden.

Der Autor lässt nichts aus, umgeht auch heikle Themen wie die Sexualität des unverheirateten Fremdarbeiters nicht. Er findet die nötige Distanz, indem er in der dritten Person erzählt. Er schreibt über Sergio, und dieser Sergio hat Anlass zur Klage und zur Anklage: gegen die Mutter und vor allem gegen den Stiefvater, gegen die Behörden in Italien und in der Schweiz, gegen Arbeitgeber und Zimmervermieter. Aber er ist auch versöhnlich, freut sich über die Chancen, die er trotz allem im Leben hatte. "Keine Anklage mehr. Es war, es ist Leben. Und im Leben gibt es keine Zuschauer." Andere haben ihre Türen aufgetan, und auch er will Türen öffnen. "Güte erfahren lassen statt Bosheit". Darin spürt er die Kraft, die im letztlich dazu verhalf, sein Leben als sinnvoll und erfüllt zu empfinden.

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Sozial engagierter Freidenker

thalia.ch / kultur-online.ch

Frei denken und frei leben - das könnte als Motto über dem Leben von Sergio Giovannelli stehen, italienischer Arbeiter und Schweizer Bürger, sozial engagierter Freidenker und wacher politischer Geist, seit seiner frühesten Jugend auf der Suche nach einem gerechteren Leben für alle. Aufgewachsen in den schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahren in einer ligurischen Arbeiterfamilie, kommt er 1963 in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben - nicht nur im materiellen Sinn - in die Schweiz.

Doch das 'helvetische Paradies' ist anders als erträumt: In den Sechziger- und Siebzigerjahren werden Fremdarbeiter 'per Stück' gezählt, Arbeitgeber mischen sich mit grösster Selbstverständlichkeit ins Privatleben ihrer ausländischen Arbeitnehmer ein, und eine Überfremdungsinitiative jagt die andere. Die Angst, zurückgeschickt zu werden, ist allgegenwärtig. Doch anstatt sich anzupassen und stillzuhalten, engagiert sich Sergio Giovannelli gegen die Fremdenfeindlichkeit, setzt sich ein für die Vernetzung und Integration der italienischen Migranten und nimmt so weit als möglich teil am politischen und gewerkschaftlichen Leben in der Schweiz. Was ihm dabei hilft, ist sein eigenständiges Denken und seine Kraft, sich die Welt anders vorzustellen, als er sie vorfindet: Seit frühester Jugend schreibt er Gedichte, später Artikel für Zeitungen, er liest, fotografiert und eignet sich autodidaktisch ein immenses Wissen an. Die Schweiz wird ihm langsam zu einer neuen Heimat, nicht zuletzt dank der geteilten Überzeugungen und der grenzüberschreitenden italienisch-schweizerischen Partnerschaft mit seiner Frau Judith. Trotzdem bleibt Italien der wichtige Wurzelgrund seines Lebens, ein Bezugspunkt bis heute.

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Sergio Giovannelli ­- mehr als ein Lebensbericht

Max Keller / Neue Wege / 10/07

Fremdarbeiter aus Ligurien
Ein 28-jähriger Fremdarbeiter aus Ligu­rien bestand 1963 glücklich die grenz­sanitarische Kontrolle in Domodossola. Der Arzt hatte die prekäre körperliche Verfassung und die Behinderung am Arm mit der gelähmten Hand nicht bemerkt. Sergio Giovannelli konnte in die Schweiz einreisen und seine erste Stelle als Haus- und Küchenbursche in einem Gasthof in der Nähe von Bern antreten. 44 Jahre später veröffentlicht er seine Autobiographie, "meine eigene Dreigroschenoper", die zuerst auf Italienisch entstanden und dann mit Unterstützung von Judith Gio­vannelli-Blocher, mit der er seit 1980 verheiratet ist, die deutsche Fassung gefunden hat. Gerne empfehle ich den Leserinnen und Lesern der Neuen Wege dieses interessante und gut geschriebene Buch.

Die Emigration in die Schweiz war eine verzweifelte Flucht aus einer Fami­lie und einer Gesellschaft, die Sergio G. keine Lebensmöglichkeiten boten. Als er anfangs des Jahres 1963 auf dem Turm des Schlosses von Lerici stand, um sei­nem Leben durch den Sprung auf die Felsenklippen ein Ende zu setzen, "kam ihm plötzlich die Idee, sich auf eigene Faust ins Ausland abzusetzen". Bei den Nonnen im Waisenhaus hatte er hungern und beten gelernt, aber keinen Schulun­terricht erhalten. Nach seiner "Befrei­ung" aus dem Waisenhaus begann für ihn der Grundschulunterricht mit zwei Jahren Verspätung.

Sein gewalttätiger Stiefvater, "ein Kommunist der ersten Stunde", und sei­ne Mutter, für die er ein "Nichtsnutz" und "Dummkopf" war, hatten ihn trotz seinem geschwächten und behinderten Körper gezwungen, als Tagelöhner und Hilfsarbeiter zum Unterhalt der Familie beizutragen. Ohne Berufslehre, nur mit unzulänglichen Deutschkenntnissen aus einem Schnellkurs ausgestattet, über­schritt er die Schweizer Grenze. Aber er hatte von einem fünf Jahre älteren Schriftsteller, einem Dissidenten der KPI, gelernt, wie Bildung durch gemeinsame Lektüre und Diskussion erworben wer­den kann und zu eigenständigem Denken führt. "Die Politik war von da an für Ser­gio keine Sache von Parteipolitik mehr, sondern er suchte das Engagement für Solidarität in verschiedenen Strömungen, die gewillt waren, gemeinsame Ziele zu verfolgen und ausserdem ständige und offene Kritik zu üben gegen jegliche Form von gewalttätiger Nötigung und Verletzung der menschlichen Würde..."

Durch Bildung zu einem selbst­bestimmten Leben
Die ersten Jahre in der Emigration schlägt sich Sergio G. als Haus- und Küchenbur­sche durch, arbeitet dann fünf Jahre als Hilfsgärtner in Aarau. 1970 nimmt er eine Stelle als Hilfstypograf an, wechselt nach einem Jahr in einen Betrieb zur Herstel­lung von Präzisionsinstrumenten, in dem er bis zu seinem Umzug 1980 nach Bern als Mechaniker arbeitet. Seine erste Stelle in Bern kündigt er, weil er wegen seiner aktiven Gewerkschaftsarbeit zu immer schwererer körperlicher Arbeit versetzt wird. Nach zwei Jahren als *Hausmann" arbeitet er bis zur Pensionierung im Jahr 2000 erneut als Mechaniker.

Nach zehn Jahren seiner Emigran­tenexistenz reichte 1973 sein Einkom­men, um eine Zweizimmerwohnung zu mieten. Nun hört er nicht nur wie im "Maulwurfsloch", in dem er während sechs Jahren in Aarau hauste, bis spät abends Radio Prag, Radio Budapest, Ra­dio Moskau und Radio Tirano. Er kann besser als früher Beobachtetes notieren, Gedichte, Briefe und Zeitungsartikel schreiben. Er besucht während den Fe­rien Rumänien, Ungarn, Bulgarien, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion, die DDR und Polen. Nachdem er Englisch gelernt hat, bereist er 1974 die USA. Auf all seinen Reisen beobachtet er genau, führt unterwegs Gespräche im Zug oder Bus und auf der Strasse. Er fotografiert, macht sich Notizen und kommt mit vielen Fragen zurück nach Aarau.

1972 hat er nach Ausbildungskur­sen in Journalismus und bestandenen Prüfungen den Mitgliederausweis der Italienischen Auslandspresse erhalten. Während Jahren schreibt er nun in seiner Freizeit, *nicht um Geld zu verdienen, sondern um Ideen zu verbreiten", für verschiedene Emigrationszeitschriften über sozialpolitische Themen. Wo im­mer Bewegungen und Organisationen sich für Freiheit, Frieden und Gerechtig­keit engagieren, ist Sergio G. mit seinem Notizblock dabei, an Veranstaltungen, Tagungen und Demonstrationen.

Das Buch ist mehr als ein Lebensbe­richt. Sergio Giovannelli-Blocher schreibt seine Autobiografie, um sein Leben zu verstehen. Der Autor will und kann sich dabei nicht verstecken. Er schreibt über sich in der dritten Person. Dies ermög­licht Distanz, um die nicht einfachen Lebensverhältnisse - seine Herkunft, seine Familie, seine Erfahrungen in der Schweiz - ungeschminkt und nicht zu­letzt mit Humor und lronie darstellen zu können. Die Anerkennung für Menschen, die in seinem Leben eine Tür einen Spalt weit geöffnet haben, durchziehen den Text, der durch lehrreiche Fotos aus der Kamera des Autors bereichert wird.