Im Seitenwind

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

216 Seiten

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-028-8


4 Rezensionen

Wolf ist fett und träge. Das Rennrad steht verstaubt im Keller. Den Rennfahrer, der einst seinen Gegnern in den Bergen davongeflogen ist, gibt es nicht mehr. Wolf, der dem Spitzensport Geld und Ansehen verdankt, kämpft mit dem Leben danach. Er hasst sich für das, was er getan hat: einfach mitgeschwommen in der extremen Leistungsgesellschaft, ohne sich dagegen zu wehren.

Doch da klingelt das Telefon. Albert, ein alter Bekannter aus der letzten Rennmannschaft, überrumpelt ihn mit seinen Ideen. Er behauptet, ein System zu kennen, mit dem Wolf seinen einstigen Traum erfüllen und die Tour de France gewinnen könne. Wolf winkt ab und lässt sich schliesslich doch überreden. Und damit beginnt eine Fahrt auf der Achterbahn des Lebens. Im Zeitraffer durchrast er die Stationen: Hoffnung, Euphorie, Wahnsinn, Verzweiflung und Depression. Er wird zum Forscher, der die Idee des Systems weiterentwickelt, sich aber auch viel weitergehende Fragen stellt: Was ist Sport? Welche Rolle spielt der Leistungssport in der Gesellschaft? Wie könnte ein Sport aussehen, der ohne die offensichtlichen Perversionen des Spitzensports auskommt?

Die Antworten, die Wolf findet, öffnen die Perspektive des Textes auf Themenbereiche, die weit über die Welt des Radsports hinausgehen.

Rezensionen

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Wie bitte?

Elmar Wagner / Facts / 29.11.01

Urs Zimmermann war jahrelang bester Schweizer Radprofi. 1986 beendete er die Tour de France als Dritter. Nun legt der 42-Jährige einen bemerkenswerten Roman vor («Im Seitenwind», Verlag edition 8).

Facts: Veloprofis waren bisher nicht als Kopfarbeiter bekannt. Und jetzt kommen Sie mit einem Buch voller philosophischer Elemente.
Urs Zimmermann: Ein Velorennfahrer fährt täglich stundenlang durch die Landschaft. Was soll er in dieser Zeit denn anderes tun als denken?

Facts: Sie suchen mit Ihrem Buch wieder den Applaus des Publikums.
Zimmermann: Nein, das Buch entstand aus einem inneren Bedürfnis. Es musste was raus.

Facts: Was denn?
Zimmermann: Ich wollte meine Geschichte, die öffentlich war, in eigene Worte fassen.

Facts: Schreiben als Akt der Befreiung?
Zimmermann: Man kann es so sehen.

Facts: Die Themen Doping und Tour de France werden im autobiografisch angehauchten Roman nur tangiert. Das enttäuscht den Freak.
Zimmermann: Es galt, das Heroische des Radsports zu entlarven. Und den Dopingdiskurs wollte ich nicht nochmals führen.

Facts: Sie haben vor kurzem eine Familie gegründet, wollen als Web-Publisher arbeiten und veröffentlichen ein Buch. Spät beginnt der Alltag des Normalbürgers Urs Zimmermann.
Zimmermann: Das Schreiben dieses Buchs war mein jahrelanger Kampf gegen den Alltag.

Interview: Elmar Wagner

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Sprachlicher Seitenwind

per / NZZ / 19.12.01

per. Urs Zimmermann hat ein Buch geschrieben. Es hätte ein Buch sein können über eine glanzvolle Radfahrerkarriere, über die Geschichte des Tour-de-Suisse-Sieges 1984 etwa oder über den Weg zum dritten Platz an der Tour de France 1986. Diese Ereignisse haben auch Platz in diesem autobiographischen Roman des vielleicht besten Schweizer Veloprofis der Achtzigerjahre. Doch sie sind nicht in den Mittelpunkt gerückt, vielmehr sind sie Teil der Erinnerungen des Protagonisten Wolf, dessen Leben nach dem Rücktritt als professioneller Radrennfahrer und nach der Trennung von seiner Freundin buchstäblich aus dem Tritt geraten ist. Wolf befindet sich "im Seitenwind" des Alltagslebens, das einen neuen Entwurf seiner Existenz von ihm fordert. Da kommt ihm das Angebot des dubiosen Belgiers Albert gerade recht, der ihn für ein revolutionäres Experiment gewinnen will. Dank einer veränderten Geometrie des Velos sollen wundersame Leistungsverbesserungen möglich sein, und der grübelnde Wolf ist nach einigem Zögern bereit, sich noch einmal auf das einzulassen, was ihm einst grösstes Glück bedeutete, für ihn nun aber zur fragwürdigen Institution geworden ist: den auf Leistungsmaximierung ausgerichteten Radsport.

Die neue Herausforderung, die die Probleme des grübelnden und melancholischen Helden zunächst bloss zu verdrängen scheint, wird zum Katalysator einer Befreiung aus der Lebenskrise. Der Weg dahin ist freilich lang und voller Selbstzweifel, angereichert durch gesprächsweise erörterte Reflexionen über Doping, Medien, Sport und Sexualität. Den bisweilen verschlungenen Wegen der Wolf'schen Gedanken- und Handlungsgänge zu folgen, ist unterhaltsam, aber auch anforderungsreich. Denn seine grössten Qualitäten entfaltet der Roman in der Art und Weise der Stoffbewältigung. Zimmermann stellt der faktenorientierten Sportwelt den Widerstand seiner Sprache entgegen, in die nichts ungefiltert eingehen kann. Die packende Ereignishaftigkeit des Sports, seine spezifische Ästhetik der Präsenz wird nicht wie so oft in eine einfache, für die Referenten möglichst "durchlässige" Prosa gegossen, sondern windet sich mühsam um die Ecken und Kanten einer seltsam unkonkreten Diktion, die dem Material seinen falschen Schein gründlich austreibt. Der Sport verliert so seine mythische Unmittelbarkeit. Faszinierende Vorgänge wie eben die in der Tour de France 1986 werden bei Zimmermann stets als Erzählungen erzählt. Die materielle Schwere seines Sprachmediums führt vor Augen, dass der Sport immer erst durch mediale Vermittlung zu dem "Sport" wird, den wir zu kennen glauben. - 2001 gebührt deshalb wiederum dem Roman eines ehemaligen Radrennfahrers die gleiche Auszeichnung, die 1928 die literarische Welt "Giganten der Landstrasse" von André Reuze verlieh: nämlich das "Sportbuch des Jahres" zu sein.

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Ein System aus Rennvelos, Männern und Medien

Dominik Dusek / Tagesanzeiger / 17.12.01

Jenseits der gewohnten literarischen Kriterien: der Ex-Radsportheld Urs Zimmermann und sein autobiografischer Roman "Im Seitenwind".

Von Dominik Dusek

"Spannung", "Zwiespalt" und "Ebenen" sind Worte, die Urs Zimmermann im Gespräch oft verwendet. Er erzählt von seiner Karriere, von den psychologischen Anforderungen im Radsport, von seinen Schwierigkeiten aufzuhören und vom Ablösungsprozess, der "jetzt sogar gelingen könnte". Ganz schnell wird klar, dass es sich bei Zimmermann um einen unüblichen Sportler handelt, um einen, der dazu einlädt, als "Grübler" oder "Zauderer" etikettiert zu werden. Auf jeden Fall ist er ein hoch empfindsamer Beobachter seiner selbst, einer, der viel und auch in der Öffentlichkeit über seine Fehler nachdenkt. Und über die Fehler eines verkaufsorientierten und neurotischen Systems, in dem die Euphorie und der Fall ins Bodenlose tragende Elemente sind: über die Fehler des Systems Spitzensport.

Urs Zimmermann hat soeben einen autobiografischen Roman veröffentlicht. "Im Seitenwind" heisst er und spricht bereits im Titel von Kalamitäten. Denn wenn der Wind von der Seite kommt, wird der Positionskampf im Radfahrerfeld hart, das Ausnützen des Windschattens und das Sichschonen auf Kosten anderer rücken ins Zentrum des Denkens. Der Beginn von Zimmermanns Laufbahn vollzog sich "ungeheuer schnell". Mit zwanzig stieg er in den Klubsport ein, weniger als ein Jahr nach dem ersten Rennen klopfte der Schweizer Nationaltrainer bei ihm an, knapp drei Jahre darauf hatte er die Tour de Suisse gewonnen.

Auf die Tour de France fixiert

1986, zwei Jahre waren inzwischen vergangen, folgte ein Erlebnis, das sich später als sportlicher Höhepunkt entpuppen sollte, an den Zimmermann nie mehr richtig anzuschliessen vermochte: Er wurde Dritter an der Tour de France. Der Tenor der Medien war, dass er nur deswegen nicht gewann, weil zwei der damals überragenden Fahrer, Greg LeMond und Bernard Hinault, Teamgefährten waren und Zimmermann strategisch ebenso perfekt wie perfid auskonterten. "Ich habe mir gesagt, die Tour de France ist das Rennen, das zählt", meint Zimmermann. "Als ich dort um den Sieg mitfahren konnte, wurde es zu einer Fixierung, von der ich nicht mehr loskam."

All diese Ereignisse tauchen im Roman "Im Seitenwind" auf, man kann sogar Zimmermanns persönliche Version der entscheidenden Etappe nachlesen, das Vorwort stammt von Hinault. Und doch: Im Zentrum des Buches stehen ganz andere Dinge. Nicht die Tour, auch nicht das Doping - das Radsportthema Nummer eins der letzten Jahre -, sondern die Befindlichkeiten eines schwerblütigen Einzelkämpfers. Wolf heisst er und ist ein Radrennfahrer am Ende seiner Karriere. Noch einmal steigert er sich mit fast autistischer Kraft in die wichtigen Kleinigkeiten des Sports hinein - in die Muskelpartien, die wirkenden Kräfte, die Rahmengeometrie. Als er mit seinem sanguinischen Gegenpart Albert knapp vor der Vollendung des gemeinsam ersonnenen neuartigen "System-Velos" steht, trifft ihn die vernichtende Wucht der Depression. Ein Dreivierteljahr ist er ausser Gefecht gesetzt, danach geht es um die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls.

Man sieht schon: Das ist kein eindimensionales Buch. Zu viele sportliche Details, zu viele Mythen mögen die einen beklagen, zu abgehobene philosophische Introspektion die anderen. Die wahre Leistung Zimmermanns besteht jedoch in einem Akt mutiger Selbstentblössung, wie er der glitzernden Sportwelt sonst völlig fremd ist. Es findet keine Entlarvung statt, keine Abrechnung, aber durch die fragmentierte Geschichte Wolfs schimmert die Ohnmacht des Einzelnen, der sich in einer Geld- und Illusionsmaschinerie zurechtfinden und in zuträglicher Weise entwickeln muss. "Ich habe versucht, die Figur des Rennfahrers zu sein und noch eine andere", sagt Zimmermann im Gespräch. In solchen Sätzen, von denen es auch im Buch etliche gibt, wird ein Bedürfnis nach Durchdringung deutlich. Der Blick von aussen und der Blick nach innen vermischen sich im Gewirr der Stimmen, der Berichte, Fragen und Ratschläge.

Die Verzahnung mit den Medien, die "ein Teil des Sportlers sind", ist Urs Zimmermann wohl bewusst, ebenso, dass "der Sport die Schönheitsideale vergangener Zeiten hinweggerafft hat". Er weiss, dass nicht nur er Probleme mit Magersucht hatte - "Es kann sein, dass man sich da mit Diäten wirklich Gewalt antun muss" -, und an der einen oder anderen Stelle des Buchs spielen auch die illegalen Aufputschmittel eine geisterhafte Nebenrolle. Zimmermanns Anspruch an sich selbst ist es, den Sport "in die Gesellschaft hinein" zu stellen. Ein deutlicher Anspruch, den er tatsächlich erfüllt, wenn auch mit eher undeutlichen Mitteln; mit Andeutungen, sprachlichen Bildern und durch die Schilderung des Lebenstaumels seiner Hauptfigur Wolf.

Wolf ist ganz eindeutig Urs Zimmermann. "Ich konnte die Form des Romans nicht ganz erfüllen. Es wäre der entscheidende Schritt gewesen, Wolf von meiner Autobiografie abzutrennen. Diesen Schritt habe ich verweigert." Eine selbstkritische Erkenntnis, die freilich missachtet, dass "Im Seitenwind" ganz andere Qualitäten hat. Es ist mit all seinen Schwächen ein radikal persönliches Buch. Und es ist ein aufschlussreiches und berührendes Dokument über die Beschlagnahmung des Individuums durch ein hoch entwickeltes und mächtiges System: das System Spitzensport.

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Erlösung am Berg

Armin Köhli / WOZ / 22.11.01

Armin Köhli

Einer, der Sport zu seiner Welt macht, der Sport zu seinem Beruf macht, zu dessen ganzem Leben der Spitzensport wird; einer, der doch ein kritischer Mensch wäre, der die Leistungsgesellschaft ablehnt; einer, der von Solidarität und Menschlichkeit träumt - der wird zerbrechen. Zwar wird er Erfüllung finden, eine ungeahnte Körperlichkeit kennen lernen, neu entstehen in Schmerz und Leid. Doch er muss seine Persönlichkeit leugnen. Sein Denken, seine Intuition und sein Fühlen reduzieren sich auf Taktik und Renngeschehen.

Urs Zimmermann ist so einer. Er ist, offensichtlich, an seinem Leben als Spitzensportler zerbrochen. Er brauchte lange, um aus seinen Depressionen, aus Sinnlosigkeit und Leere wieder herauszufinden. Seite um Seite beschreibt Zimmermann diese Leiden, ohne sie wirklich vermitteln zu können. Die Worte bleiben Worte. Man weiss nicht, wo nimmt er all die schweren Worte her, das ganze Pathos. Und dann traut er sich auch noch, und immer und immer wieder, sie aneinander zu reihen, hinzuschreiben, wo sie doch so platt bleiben.Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir eine Trainingsausfahrt mit Urs Zimmermann wünschen würde. Ständig solche schweren, tiefen Gespräche führen, bis uns endlich das Keuchen an einer Steigung zum Schweigen bringt? Doch vielleicht würde eine Ausfahrt erfreulich werden, schliesslich weiss Zimmermann alles vom Velofahren, und sein Ehrgeiz war so kompromisslos, dass er die Tour de France 1986 als Gesamtdritter beendete, geschlagen nur von Bernard Hinault und Greg LeMond. Und man schweigt ja sowieso meistens, beim Training.Immerhin, manchmal begegnet Zimmermann seiner Schwermut auch mit Ironie. Meine Lieblingsstelle im ganzen Buch: Zimmermann lässt seinen autobiografischen Helden Wolf eine lange Rede über das Verhältnis Sport und Medien halten, eine richtige Medienschelte, alles ja durchaus richtig; und dann entgegnet sein Gesprächspartner Eugen nur: «Du rächst dich, weil dich Anna ausgerechnet wegen eines Journalisten hat sitzen lassen.» Zwei Seiten später folgt noch ein sehr, sehr schöner Satz. Da unterbricht Antoinette einen Monolog Wolfs über Religion und Naturwissenschaften kompetent: «Jeder klagt Descartes an, und kaum einer weiss, wovon er spricht.»

Aber ich will Zimmermann loben. Wenn ihr etwas vom Rennfahrerleben wissen wollt, verstehen wollt, in welche Gedanken- und Gefühlswelt sich ein Radprofi begibt und begeben muss, welcher Drang sich dabei entwickelt, welchem Wahn man verfallen kann, verfällt, verfallen muss - dann lest Zimmermann. Vergesst den daueroptimistischen Vom-Krebskranken-zum-Toursieger-Ami Lance Armstrong, lest den depressiven, vaterlandslosen Schweizer Zimmermann. Ein sympathischer Mensch, dieser Urs Zimmermann.