Wie Tomas Gonzalez mit "Horacios Geschichte" einem ganzen Land gerecht wird
In Kolumbien werde zu leicht gestorben, schreibt Peter Schultze-Kraft, einer der besten Kenner und Vermittler lateinamerikanischer Literatur. "So leicht und schnell, daß der Sterbende und die Zeugen des Todes oft gar nicht richtig mitbekommen, was das Sterben ist." In Kolumbien wird auch zu leicht, ja leichtfertig über Sterben geschrieben, in Zusammenhang mit den Attentaten der Drogenbanden, paramilitärischen Schwadronen, Guerrillaeinheiten und Sonderkommandos von Polizei und Militär. Denn die zeitgenössischen Schriftsteller des Landes thematisieren die soziale und kriminelle Gewalt zwar ausführlich, neigen aber dazu, sie durch die krude Art der Darstellung zu sanktionieren. Schultze-Kraft bringt eine Reihe von Beispielen, unter ihnen zwei Romane, die weltweit einige Beachtung gefunden haben: Jorge Francos "Die Scherenfrau" und Fernando Vallejos "Der Abgrund".
Vallejo ist ein Extremfall, ein Propagandist der Päderastie, der seinen Haß auf die eigene Familie, schwangere Frauen, Mütter, homosexuelle Partnerschaften, Arme, Aufständische, Priester und Politiker jedes Couleurs in eifernde Traktate gießt, die dann sicherheitshalber die Gattungsbezeichnung "Roman" tragen. Mit Kolumbien hat er schon vor zehn Jahren abgerechnet, im ersten Satz von "Chapolas negras", einer Biografie seines dichtenden Landsmannes José Asunción Silva, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Ignoranz der besseren Kreise Bogotás zerbrochen war: Colombia no tiene perdón ni tiene redención - "Kolumbien findet weder Vergebung noch Erlösung". Ein solches Pauschalurteil würde Franco vermutlich nicht fällen. Er nimmt sich immerhin die Mühe zu gestalten, was Vallejo nur umschweifend anprangert, die Spirale der Gewalt, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen durchdringt und zerstört. Das Erschrecken überläßt er den Lesern. Was aber, wenn diese gar nicht zusammenzucken, sondern sich in ihrer Resignation bestätigt fühlen und Mord, Entführung und Folter als nationale Spitzenleistungen auffassen?
Es gibt eine Gegenströmung zu dieser Art von Literatur, deren Naturalismus dem ehrenhaften, großherzigen Kolumbien, das sich wider alle Anschläge und Massaker behauptet, keinen Platz läßt. Schultze-Kraft hat als Übersetzer kürzlich zwei Romane auf deutsch herausgebracht, die eine andere Sichtweise des Vexierbildes anbieten: "Das meschuggene Jahr" von Memo Ánjel und "Horacios Geschichte" von Tomás González. Beide Autoren stammen, wie auch Vallejo und Franco, aus Medellín, das gemeinhin als Welthauptstadt des Verbrechens gilt. Bei Ánjel kommt kriminelle Gewalt überhaupt nicht, bei González nur am Rande vor. Allerdings spielt "Das meschuggene Jahr" Mitte der fünfziger, "Horacios Geschichte" Anfang der sechziger Jahre. Es ließe sich also behaupten, daß diese Romane nur historisches Interesse verdienten. Außerdem ist der gewählte Ausschnitt denkbar eng, ein Haus, ein paar Straßen, eine Kuhweide, was außerhalb liegt, wird nur indirekt, in seinen Auswirkungen erkennbar.
Über den Hass
Tomás González ist Jahrgang 1950, er hat "Horacios Geschichte" zwischen 1993 und 1998 in New York geschrieben, wo er als Übersetzer tätig war, die Originalausgabe erschien vor fünf Jahren in Kolumbien. Die Idee zu diesem Roman kam ihm, als er einen Dokumentarfilm über eine exzentrische Familie irgendwo in Connecticut sah. Unter den vielen Geschwistern war einer, den jede Kleinigkeit - ein Reifenplatzer, ein schiefer Blick oder das Lächeln einer Verkäuferin - so sehr mitnahm, daß er sich hinsetzen oder eine Weile niederlegen mußte, um den Sturm der Gefühle abflauen zu lassen. Dieser Mann erinnerte González an seinen Onkel Jorge, der immer sehr nervös war und früh starb. "Und da dachte ich, ich könnte die Geschichte von jemandem schreiben, der allzu sensibel ist, den Schönheit und Schrecken der Welt sehr schnell aufzehren. Das ist ´Horacios Geschichte´. Mit ihr machte ich mir selbst ein Geschenk: Ich versenkte mich in die Atmosphäre meiner Familie in Envigado, einem Vorort von Medellín, in den sechziger Jahren. Dabei hatte ich streckenweise das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen, wie mit einer Zeitmaschine, und langsam, mit genauem Blick, die Beschaffenheit der Dinge damals zu betrachten."
Selten hat sich jemand in der Darstellung des "natürlichen Sterbens" so weit vorgewagt die dieser Autor. Aber der Roman ist keineswegs nostalgisch. Die erzählte Zeit erweist sich als durchaus vergleichbar mit heutigen Verhältnissen, jedenfalls in ihren negativen Erscheinungsformen wie Viehraub, Korruption, Armut und Hilflosigkeit der Bedürftigen. Auch den einigermaßen überlebensfähigen Mittelstand gibt es heute noch, er steht - vertreten durch Horacio und seine Sippe - im Zentrum des Romans: drei Brüder mit ihren jeweiligen Familien, Frauen, Kindern und Freunden. Horacio sammelt Antiquitäten, weigert sich aber, sie wieder zu veräußern, weshalb er sich Geld bei seinen Brüdern borgen muß, doch im Grunde ist es seine Frau Margarita, die mit ihrem Sinn für die praktischen Dinge des Lebens die Familie über Wasser hält. Es gibt Zusammenhalt und Vertrauen, das macht der Roman ganz unaufdringlich deutlich, und Horacio ist der größte Nutznießer dieser Tugenden. Aber er ist auch auf eine eigentümliche Art hoffnungslos (wenngleich voll Illusionen), macht die richtigen Dinge zur falschen Zeit (oder umgekehrt), schafft es nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen - selbst dann nicht, als er die ersten Herzattacken erleidet und ahnt, daß seine Zeit begrenzt ist. "Mensch, Horacio, laß dich nicht klein kriegen", sagt sein Bruder Elías zu ihm, ein Schriftsteller. "Wenn du alles bewußt erlebst, wirst du feststellen, daß es keine ausweglosen Situationen gibt." Nur, wie gelingt es einem, alles bewußt zu erleben? Noch im Moment des Sterbens, nach dem dritten Infarkt, nimmt Horacio das Leben als Verheißung, nicht als Erfüllung wahr. "Im Sonnenlicht schwirrten Libellen über einem See. Wieder knurrte der Hund. Schade, dachte Horacio. Wie schön das ist, verdammt nochmal."
Den Kontrapunkt zum vergehenden Leben setzt das entstehende, wachsende Leben im Bauch der beiden Kühe, die Horacio wie seinen Augapfel hütet. Eines der Kälber stirbt bei der Geburt, aber die Kuh wird von neuem gedeckt, und nach einem Monat schwimmt wieder ein Kalb "noch haarlos im Fruchtwasser". So hält der Erzähler, einmal ganz nah an seinem Protagonisten und an den anderen Romanfiguren, dann wieder mit einem wissenschaftlichen, beinahe unbeteiligten Röntgenblick ausgestattet, die Geschichte in Schwebe. Die vielen inhaltlichen Komponenten - Horacios Unvermögen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, seine zwischen Bewunderung und Verlangen schwankenden Empfindungen für Margarita, die rätselhafte Freundschaft zwischen seinem rotzigen Sohn Jerónimo und dem ungemein höflichen David, die Treue der Brüder zueinander, ihre Mischung aus Hellsicht und Unvernunft, der ewig kläffende, an gewaltiger Selbstüberschätzung krankende Familienköter, die betuchten Frauen aus der Umgebung, die kichernd und schnatternd Margaritas Schmuggelgut aus Miami (Hautcremen, Haushaltsgeräte, Dessous) testen - hätten andere Autoren zur Groteske und damit zur Eindeutigkeit verführt. Aber Tomás González gleitet nie ins Komische, Karikaturhafte oder Tragische ab. Alles ist bedeutsam - und nichts banal.