Liebe Anwesende
Auch Sie träumen bestimmt vom Fliegen, sonst wären Sie nicht hier an dieser Vernissage. Es scheint ein uralter Menschheitstraum zu sein, sich ab und zu in die Lüfte erheben zu können, denken Sie nur an all die geflügelten Wesen, die unsere Mythen bevölkern, denken Sie an Daidalos und Ikaros aus der griechischen Sage, denken Sie an Märchen wie das vom fliegenden Teppich … Wir in unserem Zeitalter haben allen vorhergehenden Generationen voraus, dass dieser Traum handfeste Realität ist, dass die Ziele unserer Ferien- oder Geschäftsreisen auf dem Luftweg, im wahrsten Sinne des Wortes „flugs“ erreichbar sind. Allen Pionieren der Luftfahrt, die ihren damals „verrückten“ Fantasien Gestalt gaben und sie technisch umzusetzen versuchten, von Leonardo da Vinci bis Otto Lilienthal, von Etienne Montgolfier und Ferdinand Graf von Zeppelin bis zu den Gebrüdern Wright sei Dank. Deren kühne Vorstellungen sind allerdings für uns bei weitem nicht mehr so aufregend, nein: Eigentlich gehören sie eher zum banalen Alltag. So ist es eben, wenn Träume wahr werden: Sie verlieren ihre transzendierende Funktion, ihren eigentlichen Gehalt. Sollen wir dies bedauern?
Eine Gefahr bei Höhenflügen ist die Bruchlandung, der Absturz: so geschehen in der Mythologie bei Ikaros, so geschehen in der Realität beim unglückseligen Schneidermeister von Ulm, der mit seinem selbst gebastelten Flügelpaar unsanft in der Donau landete, oder auch beim namhaften Otto Lilienthal, der ja bei einem seiner Experimente tödlich verunglückte. Und Hand aufs Herz: Wen begleitet beim Fliegen nicht dieses leise Kribbeln, eine mehr oder weniger in den Hintergrund gedrängte Flugangst – mit der zum Beispiel die Schausteller an Rummelplätzen ihr Geschäft machen. Eine Mischung von Faszination und Nervenkitzel scheint bei der Fliegerei einfach dazuzugehören.
Bleiben wir also angesichts des Risikos oder der drohenden Banalisierung nicht lieber beim Träumen? Vielleicht. Aber auch diese Ebene ist heutzutage kein weisser Fleck auf der Landkarte, führt nicht einfach so ins Abenteuer, da haben Traumforscher und Traumdeuter ganze Arbeit geleistet. Falls Sie nun – wie offenbar sehr viele Leute – nachts im Schlaf – wie ein Vogel über der Erde schweben, birgt dies für KennerInnen einschlägiger Werke keine grossen Geheimnisse und Ihre Vorstellungswelt findet sicher unter einer der folgenden Kategorien Platz: Es könnte sich um sexuelles Verlangen handeln (gemäss Freud natürlich), Ihr „Höhenrausch“ zeigt Erfolgsgefühle an, vielleicht aber auch Wirklichkeitsferne mit Absturzgefahr, Sie könnten Befreiung suchen, Veränderung anstreben oder aber ganz einfach von körperlichen Ursachen wie Herzrhythmus, Atemtechnik, Blutkreislauf- und Stoffwechselstörungen in Ihren inneren Bildern beeinflusst sein. Andere wieder würden eher Ihr Verlangen nach Transzendenz herauslesen, den Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen, oder sogar ein Todessymbol erkennen.
Was hat dies alles mit Brigitte Fuchs und ihrem neusten Gedichtband zu tun. Da wir uns hier in der Stadtbibliothek, einem literarisch geprägten Ort, befinden, nehme ich an, dass Sie nicht hergekommen sind, weil Sie sich einen praktischen Einstieg ins Fliegen erhoffen, etwa einen Schnellkurs in Hängegleitertechnik oder einen Versuch im Flugsimulator. Da müssten wir Sie sonst schwer enttäuschen: Meines Wissens hat Brigitte Fuchs kein Flugbrevet.
Die zweite, innerliche Ebene, die des Traums, kommt der Sache schon viel näher: Träume können ja – wie wir alle wissen – nicht eins zu eins gelesen werden. Ihre Bilder stehen für seelische Inhalte, sind komplex und vieldeutig und brauchen Entschlüsselung, Interpretation, d.h. eine Übersetzung in unsere Alltagssprache. Als Metaphern schöpfen sie aus der gleichen Quelle wie unsere sprachlichen Bilder, mit denen Wortkünstlerinnen wie Brigitte Fuchs arbeiten, dem unendlichen Fundus unseres seelischen, kulturellen, gesellschaftlichen Lebens, unserer inneren (und äusseren) Wirklichkeit, die uns beeinflusst und die wir schaffen. Wenn Brigitte Fuchs in Ihrem neusten Gedichtband das Fliegen zum Thema wählt und auslotet, müssen wir uns also auf gedankliche Reisen gefasst machen, ein Auskosten der verschiedenen Schattierungen, die Vorstellung und Begriff des Flugs bereichern. Das tut die Autorin denn auch gekonnt: In jedem der sechs Teile des Gedichtbandes widmet sie sich einem andern Aspekt: dem Versuch, die Schwerkraft zu überwinden und abzuheben, dem Weg ins Offene, Ungewisse, vielleicht Trügerische, der Entgrenzung und Liebe, der Sehnsucht, dem Bodenkontakt (als Kontrast) und schliesslich der Transzendenz, dem Entgleiten, dem Abschied und dem Tod.
Virtuos spielt sie hier auf allen Registern. Wer Brigitte Fuchs kennt, weiss, dass das Luftige ihr eigentliches Element ist: Wenn wir sie in die Welt dieses „Handbuchs“ begleiten, dürfen wir mit ihr (fast) über dem Boden schweben, lehrt uns ein Kiesbett das Hüpfen, blasen wir Seifenblasen, hält eine den Wind auf – und vor allem entsteht viel offener Raum zwischen den Zeilen. Es ist die Kunst der Lyrikerin, mit wenigen Worten skizzenhaft eine alltägliche Szene zu entwerfen und ihr dabei gleichzeitig Risse zu verpassen, die uns unvermittelt in die Weite entführen, eben: abheben und fliegen lassen. Brigitte Fuchs verspricht also nicht zu viel mit dem von ihr gewählten Titel. Das Fliegen kann sogar als Metapher für die Dichtung selber stehen – nicht umsonst trägt der Pegasos, das Pferd, das scheint’s alle Dichter reiten, ein Flügelpaar und trägt sie durch die Lüfte. Wie sonst könnten die Inspiration, die unverfestigte Idee, der neue Blickwinkel, die Leichtigkeit und Schnelligkeit der Gedanken, der weite Horizont, die unerwarteten Verbindungen dargestellt werden? Höhenflüge sind in der Poesie gefragt, das Verlassen der Froschperspektive, die Befreiung aus der Enge des Alltags. Dieser allerdings hat bei Brigitte Fuchs auch eine wichtige Funktion: Er ist der Boden, von dem aus sie startet. Ein grosser Reiz ihrer Lyrik liegt genau darin, dass die Dinge, die sie anvisiert, sehr gewöhnlich sind, keineswegs romantisch, ohne kulturelle Politur: Da dürfen auch einmal eine Motorsäge oder Computerteile auftreten, da finden Frühstücksei, Stöckelschuhe oder Strassenschilder ihren Platz, da verbindet sich zum Beispiel gar ein seidenes Taschentuch in kühner Konstruktion mit einem Abstraktum wie Zeit und breitet sich worüber wohl? Über ein Wort: LYRIK (gross geschrieben). Sowohl explizit als auch untergründig begleitet uns das Thema des Schreibens durch den Gedichtband hindurch.
In einem Punkt – da muss ich Sie warnen – ist der Titel dennoch trügerisch: Es sollte sich hier ja um ein Handbuch handeln. Da dürfte man doch etwas Praktisches erwarten, Zahlen und Fakten, guten Rat, einen Leitfaden fürs Handeln, ein Nachschlagewerk, wenn Sie nicht mehr weiter wissen. Ist dieses Buch tatsächlich hilfreich? Bietet es Rezepte? Zum Beispiel, wie man träumt? Oder gar, wie man dichtet? Liegt hier so eine Art Lyrik-Kochbuch vor?
Schauen wir einmal, wie es mit dem Messbaren steht. Dazu kann ich Ihnen Zahlen und Fakten liefern. Einmal zum Buch selber: Es hat 175 Seiten – die Hälfte davon unbedruckt, um den Gedichten Luft zu geben –, misst 17.6 cm in der Höhe, 12.5 cm in der Breite und ist 1.9 cm dick. Es wiegt 230 g und kostet Fr. 24.00 – falls es jemand kaufen möchte: hier sei diskret auf den Bücherstand verwiesen – , ein Gramm kommt Sie also nicht mal auf 10 Rappen zu stehen. Beachten wir dazu die zeitliche Dimension: Brigitte Fuchs hat daran zwischen 2002 und 2007 gearbeitet, das wären etwa 5 Jahre. Das Preis-Leistungsverhältnis ist, wie Sie sehen, fürs Publikum sehr vorteilhaft.
Inhaltlich sieht es so aus: Das „Handbuch des Fliegens“ umfasst 6 Teile und enthält 75 Gedichte, das macht durchschnittlich 12.5 Gedichte pro Teil. An Wörtern finden wir nach Angaben der Dichterin 4154 vor, durchschnittlich also etwa 55 pro Gedicht. Einen der Teile, den ersten mit dem Titel „Da auf dem Boden“ habe ich ausserdem ausgezählt: Es sind 13 Gedichte, auf ein Gedicht fallen im Schnitt etwa 59 Wörter. Wenn wir diese nach den wichtigsten Wortarten aufschlüsseln, kommen wir auf 17 bis 18 Nomen und nur je etwa 5 Adjektive und Verben pro Gedicht, der Rest sind Konjunktionen, Artikel, Pronomen usw. Sie sehen: Die Nomen wiegen eindeutig vor. Das überrascht nicht, wenn man an den Charakter der Gedichte denkt, diese hingetupften Stillleben, die jedem Schwulst abhold sind (der sich z. B. in einer Häufung von Adjektiven äussern könnte) und die, anders als etwa Balladen, auch nicht gerade von Action (d.h. Verben) geprägt sind.
Natürlich sind Massangaben allein nicht aussagekräftig genug, wir müssen auch etwas über das Material wissen. Schauen wir uns die Nomen diesbezüglich an und vergleichen wir das Verhältnis von Konkreta und Abstrakta. Hier scheint nun das Konkrete zu dominieren: Auf den ersten Blick bleiben die Gedichte zu drei Vierteln im fassbaren Bereich. Allerdings lassen sich sehr viele Nomen nicht so einfach zuordnen. Ein Wort wie „Ruder“ ist ja wahrlich handfest. Wie steht es aber damit, wenn etwas „aus dem Ruder läuft“, wenn plötzlich die übertragene Bedeutung gemeint ist? Kosten Sie einmal ein Wort wie „Boden“ aus, oder „Fenster“, „Sonne“, „Luft“. Ein grosser Teil des Wortschatzes im „Handbuch“ schillert in Assoziationen, lässt sich nicht einfach so festlegen und verknüpft sich quer durchs Gedicht in oft unerwarteten Kombinationen.
Dazu kommen die erwähnten kühnen Verbindungen von Konkretem und Abstrakten: nochmals „das seidene Taschentuch Zeit“ oder „die Welt aus der Tüte ein zu Tage gefördertes Begehren“ oder „ein Gebäude aus Luft aus lauter Ungestüm“. Genau hier tun sich Fugen auf in der festgefügten Wirklichkeit, entsteht eine neue Dimension im Gedicht.
Fassen wir zusammen: Möchten Sie also ein Gedicht in der Art von Brigitte Fuchs schreiben, wählen sie im Schnitt 55 Wörter aus, davon etwa ein Drittel Nomen, und verteilen Sie sie auf 10 bis 11 Zeilen. Es empfiehlt sich Begriffe mit weiten Wortfeldern zu verwenden, nachzuschlagen etwa in einem Wörterbuch der Redensarten, und sie in überraschenden, raffinierten Verbindungen – zum Beispiel zwischen Konkretem und Abstraktem – für den verwöhnten Gaumen zusammenzustellen und reizvoll anzurichten. Ein Kaffeelöffel Verben und eine Prise Adjektive geben dem Gericht, nein: Gedicht die nötige Würze. Achtung: keine Reime, diese wären zu aufdringlich und könnten den fliessenden Übergängen schaden. Stellen Sie das Ganze danach zwischen 1 und 6 Jahren kühl, bevor Sie es servieren, lassen Sie es ziehen, gären, garen … Garnieren Sie es schliesslich mit einem ansprechenden Umschlag, möglichst aus eigener Küche. Hier stammt das Bild von der Autorin selbst und ihre Tochter, Marie-Lena Fuchs, von Beruf Web Application Developer, hat das Cover von der Grösse her angepasst. Herzlichen Dank.
Ist Ihnen das alles in allem immer noch zu wenig praktisch für ein Handbuch? Dann schauen wir doch mal, welche ausdrücklichen Anweisungen Brigitte Fuchs uns im Text gibt. Da steht zum Beispiel, man könne „Seife ins Wasser geben und blasen“, „alles an die Sonne schieben“, die „Schlittschuhe anziehen und Bögen ziehen“, „den Pinsel in Cadmiumgelb tauchen“, „üben, üben, üben“ …und schliesslich: „Hände weg von der Tastatur!“ Lässt Sie dies ratlos?
Richtig. Das „Handbuch des Fliegens“ ist genau so wenig ein Handbuch wie „das Gebäude aus Luft“ eine Baubewilligung braucht und auf unsern Ortsplänen erscheint. Es bezieht sich auf keine greifbare Wirklichkeit, sondern auf ein anderes literarisches Werk, ist mit andern Worten ein Zitat. Dieses hier stammt von Richard Brautigan, ist von Alfred Andersch übersetzt und dient als Motto und Titel für einen der sechs Teile dieses Buches – die übrigens alle mit literarischen Referenzen versehen sind. Ich möchte Ihnen die Vorlage, die Brigitte Fuchs zu ihren Variationen inspiriert hat, nicht vorenthalten. Sie heisst, ich zitiere nun Brautigan: „der da möchte fliegen / er sitzt neben mir im bus / im handbuch des fliegens lesend.“
In diesem Sinne hoffe ich, dass auch Sie fliegen möchten und jetzt gemäss einer weiteren „praktischen“ Anweisung der Autorin „die Flügel anschnallen / gegen jede Vernunft / losrennen abspringen“. Ich wünsche viel Vergnügen.