Bei den Heiden
Buch
Aus dem Spanischen von Peter und Rainer Schultze-Kraft, Gert Loschütz, Michi Strausfeld und Jan Weiz
Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen
144 Seiten
CHF 20.00, EUR 20.00
ISBN: 978-3-85990-166-7
6 Rezensionen
Dieses Buch gibt uns einen spannenden Einblick in die literarische Entwicklung eines der massgebenden kolumbianischen Autoren in der Zeit von 1959 bis heute und zugleich in die Entwicklung Medellíns von einer aufstrebenden Industriemetropole, in der noch Reste ihrer kleinstädtischen Vergangenheit lebendig sind, zu einer modernen, von Drogenhandel und Verbrecherbanden beherrschten Millionenstadt. Es ist ein Weg in die Hölle, den der Autor mit Sachkenntnis und Empathie nachzeichnet.
In Kolumbien gibt es keinen zweiten Erzähler, der sich wie Darío Ruiz Gómez in die Seelen seiner Figuren hineinzuversetzen vermag – aus welcher Gesellschaftsschicht die Protagonisten der Erzählungen auch immer stammen. So verfolgen wir mit den Augen einer Mutter, an der die moderne Entwicklung vorbeigeht, wie ihr die heranwachsende Tochter immer fremder wird; wir begleiten eine junge Frau vom Land, deren gesamte Familie in der Zeit der ›Violencia‹ (1948–53) vom Militär getötet wurde und die in einem Bordell Rache am verantwortlichen Offizier nimmt; wir erfahren von der Verstrickung eines Drogenkuriers zwischen Medellín und New York, der gegen den Ehrenkodex der Mafia verstossen hat; und wir werden Zeugen, wie ein Junge aus der Oberschicht plötzlich die soziale Zweiteilung seiner Stadt erlebt, als sein Schulbus von der normalen Route abkommt und in einem Armenviertel überfallen wird. Viele Erzählungen sind in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts angesiedelt, der Blütezeit von Pablo Escobars Drogenkartell, als in Medellín im Durchschnitt zehn Menschen pro Tag ermordet wurden.
Aber der Autor schildert diese Welt nicht in Form von literarischen Gewaltorgien, sondern indem er die Zwangslagen, die Hilflosigkeit und Einsamkeit dokumentiert, in die die Protagonisten in einer solchen Gesellschaft geraten und in der selbst die Täter zu Opfern ihres Systems werden. Die Kunst des Darío Ruiz Gómez ist es, nicht nur den Weg einer Stadt, einer Gesellschaft in die Hölle zu zeigen, sondern auch das menschliche Antlitz der Hölle.
Herausgegeben mit Unterstützung von Litprom, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika
Rezensionen
Ein Geschenk des Himmels
Erich Hackl / Der Standard / 26.11.2011
Den Gefühlen der Menschen einen Ort geben: dreizehn Erzählungen des Kolumbianers Darío Ruiz Gómez
Der 74-jährige kolumbianische Schriftsteller Darío Ruiz Gómez ist ein kluger Kopf und ein glänzender Erzähler. Dass er seine Ellbogen lieber zum Aufstützen als zum Vorwärtskommen verwendet, ist zwar seiner Reputation zuträglich, nicht aber der Verbreitung seines Werkes. Im Gespräch mit der Autorin Consuelo Triviño Anzola hat er unlängst bekräftigt, dass seine Bücher von allem Anfang an - dem ersten, 1967 erschienenen Erzählband "Para que no se olvide su nombre" - unter der Fachkritik viel Beachtung gefunden haben, obwohl sie in kleinen Verlagen erschienen sind. Auch seine erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache, mit dreizehn Erzählungen aus 45 Jahren, erfolgt nun in einem Kleinverlag, der beneidenswert eigensinnigen Edition 8, und verdankt sich der Initiative seines Freundes und Übersetzers Peter Schultze-Kraft.
Anders als den meisten seiner Kollegen ist Ruiz Gómez also nicht an Präsenz im literarischen Tagesgeschäft gelegen. "Die grösste Schwierigkeit hat für mich darin bestanden, gegen die versteckte Gewalt des Marketings anzukämpfen, das eine Literatur, die ihm nicht gehört, das heißt unsere literarische Tradition, mit Stumpf und Stiel auszurotten versucht - ein Ziel, das sich die an der Macht befindlichen Gruppen schon früher gesetzt haben. Sie unterdrückten und verschwiegen Autoren, deren Diskurse nicht in das uns aufgezwungene Projekt einer Gesellschaft gepasst haben." Dieses Projekt läuft in Kolumbien, wie anderswo, unter dem Begriff der Modernisierung, wobei darunter materieller, nicht moralischer Fortschritt verstanden wird. Die mit ihm einhergehenden ökonomischen Veränderungen haben, so Ruiz Gómez, ein soziales Ungleichgewicht geschaffen, das von der Kulturindustrie verschleiert und als Erfolg ausgegeben wird.
"Das industrielle Modell, das ab 1940 in die Praxis umgesetzt wurde, setzte das Vergessen des Landes voraus und beförderte das rasante Wachstum der Städte, in denen die armen Schichten der Bevölkerung infolge der Arbeitslosigkeit nach dem Scheitern der Industrialisierung ins Lumpenproletariat absanken. Auf dieses Reserveheer verzweifelter und bindungslos gewordener Stadtbewohner konnte der Drogenhandel zurückgreifen, der einen unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung bewirkte, zugleich aber das nationale Ordnungsgefüge radikal verändert und paradoxerweise den Beitritt des Landes zur globalisierten Welt bedeutet hat." Die solcherart skizzierte Entwicklung lässt sich in Ruiz Gómez' Erzählungen, ebenso in seinen Essays zum Wandel der Stadt Medellín, in der er seit seinem vierten Lebensjahr wohnt, ablesen. Das heißt aber nicht, dass sie sich in soziografischen Mustern erschöpfen und die Fähigkeit der Menschen missachten, trotz aller Verstrickungen und Abhängigkeiten zumindest die Ahnung von einem selbstbestimmten Leben zu bewahren. Und dort, wo auch sie ihnen schon abhanden gekommen ist, setzt der Autor dem Elend seiner Protagonisten ihre Sehnsucht entgegen, die Beziehungslosigkeit und Isolation im gemeinsamen Schweigen, in der Lethargie der immergleichen Verrichtungen und in sentimentalen Liedern, "die den Gefühlen dieser Menschen einen Ort, Strassen und Landschaften geben", aufzubrechen.
Ruiz Gómez schreibt harte, freudlose Geschichten. Er erklärt nichts, dafür ist sein Tonfall zu lakonisch, knapp, auf das Wesentliche konzentriert, und das ist in Medellín mehr noch als sonstwo in Kolumbien die allgegenwärtige Gewalt. Trotzdem erliegt er nie ihrer Faszination. Er beschreibt sie in all ihren Erscheinungsformen: versteckt unter dem Mantel des Gehorsams gegenüber den Eltern; als Rache eines Animiermädchens an einem brutalen Polizisten; in den Steinwürfen auf einen von der üblichen Route abgekommenen Schulbus, im Entern des Busses durch die Bewohner einer Elendssiedlung; in der Ausweglosigkeit eines armen jungen Mannes, der von einer kriminellen Geschäftsfrau ausgehalten wird; im erzwungenen Verzicht einer Politikerwitwe auf den von ihrem Mann angehäuften Reichtum; in der routinierten Grausamkeit eines Drogenhändlers. Aber in dieser Gewalt, sowohl unter denen, die sie ausüben, als auch unter den andern, die sie ereilt, blitzt immer wieder ein Funke Mitleid, Hellsichtigkeit oder Selbstachtung auf. Vielleicht ist es deshalb falsch, diese Ge-schichten als trostlos zu bezeichnen.
Und es wirkt aufs Erste ermutigend, dass die abschließende, auf spanisch noch unveröffentlichte Erzählung die Begegnung zwischen einer älteren einsamen Frau und einem jungen Mann schildert, der, noch unkundig in der Stadt, auf der Suche nach Verwandten die unsichtbare Grenze zu einem Viertel überschreitet, dessen mordgierigen Hüter keine Fremden dulden. Indem ihn die Frau als ihren Sohn ausgibt, rettet sie ihm das Leben. Aber sie handelt nicht ohne Eigennutz: "Wenn du also weiterleben willst, musst du dich ab jetzt als mein Sohn ausgeben, musst mein Sohn sein - ein Geschenk des Himmels für mich."
In seinem gleichermaßen informativen wie emphatischen Nachwort rühmt Schultze-Kraft Ruiz Gómez als außerordentlich begabt darin, sich "in die Seelen seiner Protagonisten zu versetzen und ihre Nöte (...), ihre Einsamkeit und Verzweiflung von innen heraus zu erspüren und zu vermitteln". Und er fügt hinzu, dass sich dieses Kunstvermögen immer zu erkennen gibt, "unabhängig davon, aus welchem Milieu oder welcher Gesellschaftsschicht die Protagonisten seiner Erzählungen stammen, seien es nun Hausfrauen, Arbeiter, Schuljungen, Drogenkuriere oder Mafiabosse".
Mir aber will scheinen, dass die schönsten Geschichten (schön, auch wenn sie hässliche Dinge zur Darstellung bringen) diejenigen sind, in denen Ruiz Gómez über die Armen schreibt. Er belässt - nein, er gibt ihnen ihre Würde zurück. Auch darin wird deutlich, wie sehr er sich dem von ihm kritisierten gesellschaftlichen Projekt und dessen literarischen Gefolgsleuten verweigert.
Die großartigen Geschichten des Kolumbianers Darío Ruiz Gómez
Piero Salabè / Märkische Allgemeine / 17.3.2012
Das Klischee verlangt es, dass in Büchern aus Kolumbien Menschen durch Gewalt wie die Fliegen sterben, wenn sie nicht gleich, wie bei García Márquez, mit Leib und Seele in den Himmel fliegen. Eine Realität, die wie auf den Bildern des Malers Fernando Botero trotz all ihrer Brutalität märchenhaft entrückt anmutet. – Als ließe sie sich in ein Bild oder eine Erzählung bannen und so vom Bewusstsein leichter verbannen.
Doch Gewalt ist nicht nur eine Nachricht, ein Ereignis oder ein Bild, sondern der unsichtbar von ihr geprägte Alltag von Menschen, die aus Angst ein Viertel besser nicht aufsuchen, ein Wort besser nicht sagen, ein Kleidungsstück besser nicht tragen. Seit 40 Jahren dokumentiert Darío Ruiz Gómez diesen Alltag des Schreckens in seinen Erzählungen, von denen der Band "Bei den Heiden" eine hervorragende Auswahl versammelt.
"Überall wird es mit jedem Tag schlimmer" heißt es prophetisch in der Geschichte "Adiós, mein Herz" von 1961, in der sich eine Prostituierte einem Polizisten hingeben muss, um ihren neuen Job im Lokal "Der letzte Schluck" nicht zu gefährden. Bereits hier ist in jedem Blick, in jeder Sprechpause zwischen den Figuren eine unterschwellige Atmosphäre von Gewalt und persönlicher Gefährdung zu spüren.
Und doch mutet das Medellín der 60er Jahre im Verglich zum späteren Moloch noch ländlich an, wenn an den Berghängen Viertel gegründet werden, die aus einer einzigen Straße mit fünf Häusern auf jeder Seite bestehen, und wo "so viele Tangolokale, entstanden waren, weil die Menschen nicht fertig wurden mit ihrer Entwurzelung und ein Ventil für Gefühle brauchten". Dirnen, Trinker, Gestrandete, Auftragsmörder auf der einen Seite und – von ihnen scharf getrennt – die Familien der Reichen, mit ihren Kleinimperien, ihrer Heuchelei und der Schar von Dienstmädchen.
Ruiz Gómez zeigt uns die kolumbianische Gesellschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln, ohne zu leichtfertigen Schlüssen in Bezug auf die Gewalt zu kommen. Und er zeigt auch den sozialen und städtebaulichen Wandel, denn eine "neue Rasse" vulgärer und skrupelloser Drogenkrimineller hat sich breitgemacht, die den Lebensstil der Superreichen nachäfft und sich modernster Organisation bedient. In der Geschichte "Debriefing" von 1999 wird die alte Mutter eines aus New York zurückgekehrten Drogenkuriers entführt, weil dieser Geld unterschlagen hat. Denn Loyalität gilt nur "der Institution, die wie ein Wirtschaftsunternehmen funktioniert". Doch der Reichtum selbst wird zu einer Bürde, wie in der Erzählung "Zellophansack" von 1991, dessen jugendlicher Protagonist für seinen Aufstieg in die High Society der Kriminellen einen hohen Preis zahlen muss: "Er kam sich wie ein Tier vor, das belauert wurde, das die Gefahr witterte und zugleich wusste, dass es dennoch in die Falle gehen würde."
Ruiz Gómez besondere Kunst ist es, das unheimliche Leben in Medellín aus der Innenperspektive der Figuren zu erzählen. So auch in der gelungensten, titelgebenden Erzählung "Bei den Heiden", in der für ein Kind aus gutem Hause die Fahrt mit dem Bus zur Schule zum großen, sehnsüchtig ersehnten Abenteuer wird, als es aus Versehen durch gefährliche Viertel fährt. Die Grenze der Gewalt, suggeriert der kolumbianische Autor in seinen meisterhaften Kurzgeschichten, verläuft unsichtbar und ist dann bereits überschritten, wenn sie Menschen eine unfreiwillige Unsichtbarkeit aufzwingt. Sie zeigen "die Ruinen der Zukunft".